Bertelsmann Stiftung: Überversorgung schadet Patienten
Überflüssige und in ihrem Nutzen fragwürdige Untersuchungen, Operationen, Therapien und Arzneimittelverschreibungen könnten zu Verunsicherung, Komplikationen und Folgeeingriffen führen, schreibt die Bertelsmann Stiftung aufgrund einer Analyse des Berliner IGES Instituts. Unnötige Leistungen würden auch medizinisches Personal und Ressourcen binden, die für andere Behandlungen dringender benötigt würden.
Beispielhaft wird berichtet, dass es jährlich in Deutschland zu rund 70 000 Schilddrüsenoperationen kommt, obwohl bei etwa 90 % der Eingriffe keine bösartigen Veränderungen vorlägen. „Mit einer besseren Diagnostik könnten viele dieser Operationen vermieden werden“, so die Stiftung. Auch bei einer Eierstock-OP bestätige sich der Verdacht auf eine bösartige Erkrankung nur bei jeder zehnten operierten Frau. Es komme zu unnötigen Operationen, „weil vielen Frauen ohne Risiko ein Screening empfohlen wird, obwohl dies gegen Leitlinien verstößt“.
Therapie scheint für Patienten oft besser als Abwarten
Die IGES-Ergebnisse zeigen auch einen oft unkritischen Einsatz von Magensäureblockern, die hierzulande zu den am häufigsten eingenommenen Arzneimitteln zählen. „Experten zufolge nehmen Ärzte hier bis zu 70 % aller Verordnungen ohne korrekte Indikation vor“, so die Bertelsmann Stiftung.
Manchen Patienten sei gar nicht bewusst, dass sie selbst unnötige Behandlungen einfordern und sich dadurch Risiken aussetzen. In vom Rheingold Institut geführten Tiefeninterviews, auf die Bertelsmann verweist, meinen 56 % der Bürger, jede Therapie sei besser als Abwarten.
Die Stiftung fordert von Ärzten, ethische Verantwortung zu übernehmen und Patienten stärker bewusst zu machen, dass überlegtes Abwarten und Beobachten in bestimmten Fällen unnötige und eventuell schädigende Maßnahmen verhindern kann. Nutzen und Risiken von Leistungen seien stärker zu verdeutlichen, unnötige Leistungen zu unterlassen.
Politik und Selbstverwaltung werden aufgefordert, die Versorgung bedarfsorientiert und sektorenübergreifend zu planen und zu organisieren sowie die Vergütung stärker an der (Indikations-)Qualität auszurichten. Zurzeit werde „selbst falsches Handeln vergütet, nicht aber korrektes Unterlassen“.
Frauenärzte wollen die Kritik nicht hinnehmen
Das IGES-Institut bezieht sich bei den Zahlen zu Eierstock-Operationen auf Gesundheitsinformationen des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Der Berufsverband der Frauenärzte und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe bezeichnen diese Aussagen jedoch als überholt. IQWiG-Experten wiederum bewerten diese Vorwürfe als haltlos. Ihren Aussagen nach berufen sich die Frauenärzte auf eine brasilianische Studie von 2016, die 131 Frauen einschließe. „Wir sind offen gesagt erschrocken, dass das Board der Frauenärzte diese Studie anführt, um die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien mit über 200 000 Frauen ... infrage zu stellen“, bemerken der IQWiG-Leiter Professor Dr. Jürgen Windeler und Dr. rer. medic. Klaus Koch, Leiter des IQWiG-Ressorts Gesundheitsinformation. „Auf Basis der aktuell vorliegenden Studien muss man sagen: Die Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung verbessert die Heilungschancen nicht.“ Bis heute hätten der Berufsverband und die Fachgesellschaft nichts unternommen, um die Evidenzlage zur Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zu verbessen, bemerken die beiden IQWiG-Experten. Sie ermuntern die Frauenärzte, qualitativ hochwertige Studien zu initiieren und zu prüfen, ob der hochauflösende Ultraschall tatsächlich zur Früherkennung von Eierstockkrebs von Vorteil ist.
Medical-Tribune-Bericht