Praxiskolumne Besser Check-ups streichen als Impfungen

Kolumnen Autor: Dr. Nicolas Kahl

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Ich hatte meiner Ärztin in Weiterbildung empfohlen, zur Prüfungsvorbereitung den neuen Facharzt-Trainer der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) zu nutzen. Sie war begeistert von den Inhalten, doch Tage später erreichte mich eine leicht resignierte WhatsApp.

Sie müsse nun ihre bisherige (aus meiner Sicht sehr gute) Impfberatung hinterfragen. Hintergrund seien unterschiedliche Empfehlungen von STIKO und WHO, die eingeschränkte Evidenz von verschiedenen Impfungen wie Grippe und Pneumokokken sowie der TD-Impfung alle zehn Jahre. Die Pertussisimpfung sei womöglich Ressourcenverschwendung. Außerdem müsse die Frage gestellt werden, ob die ärztliche Arbeitskraft für Impfungen sinnvoll eingesetzt werde. Als Weiterbilder habe ich versucht, die neuen Lerninhalte aus meiner persönlichen Sicht mit folgender Antwort an die Kollegin einzuordnen:

  1. Man muss die Erwartungen an Impfungen bzw. die Sorge von Patienten, ohne Impfschutz zu sein, durchaus relativieren. Wenn Patienten etwa die TD-Auffrischimpfung verschwitzen und z.B. erst nach zwölf Jahren kommen, sage ich immer dazu: „Na ja, die Schweizer impfen eh nur alle 20 Jahre. Keine Sorge.” Aber irgendeinen Cut-off braucht’s halt. Was potenzielle Haftungsfragen angeht, sollte man sich aus meiner Sicht an geltenden RKI-Empfehlungen, z.B. im Rahmen der Wundversorgung, orientieren.

  2. Pertussis ist für Neugeborene im 1.-3. Monat lebensbedrohlich. Daher berate ich werdende Großeltern durchaus dahingehend, sich mit Tdap auffrischen zu lassen. Denn wenn sie ihr Enkelkind anstecken und es stirbt, sind die psychischen Folgen auch für die Groß­eltern beträchtlich.

  3. Was die Pneumokokkenimpfung angeht, ist die number needed to vaccinate tatsächlich nicht der Hit. Aber ich halte die STIKO für ein Gremium, das sich differenzierter und intensiver mit dem Thema beschäftigen kann als ich. 

  4. Das Argument, Impfungen würden unnötig viel Arztzeit binden,  muss man zwar aus akademischer Public-Health-Sicht ernst nehmen, führt aus meiner Sicht aber in die falsche Richtung. Bevor ich Impfungen als ärztliche Leistung streiche, würde ich eher sinnlose Check-ups, Hautkrebsscreenings und viele andere Maßnahmen abschaffen sowie Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erst ab dem 14. Krankheitstag verpflichtend machen. 

Impfungen wie die gegen HPV kommen eh schon schlecht ins Feld – wir Deutschen geben da im internationalen Vergleich kein gutes Bild ab. Dabei sind sie aus meiner Sicht sehr wichtig sind. 

Mein Pädiatrie-Professor hat im Studium gern gesagt: Alle Medikamente zusammengenommen haben historisch betrachtet nicht so viele Todesfälle verhindert wie die Hygienestandards und Impfungen. Bevor ich Letztere anzweifle, würde ich zunächst bei ganz vielen anderen Maßnahmen fragen: Wo ist deren Evidenz? Wenn man im praktischen Alltag alles auf die Spitze treibt, fragen wir uns irgendwann, ob es überhaupt eine Evidenz dafür gibt, morgens die Praxistür aufzumachen.

Nicht mit jedem Patienten muss man die Datenlage intensiv diskutieren, denn das würde wirklich unnötig viele Praxisressourcen binden. Bei sehr skeptischen Patienten meinetwegen. Aber ansons­ten muss es pragmatisch bleiben.

Insofern mein WhatsApp-Tipp an die Kollegin: „Halte dich erst mal weiterhin an die STIKO und über Details sprechen wir gerne in der Praxis.“