Besser Kasse oder privat? "Jamei", sagt der Bayer

Autor: Dr. Robert Oberpeilsteiner

Werden Kassenpatienten wirklich benachteiligt? Dr. Robert Oberpeilsteiner zu den Gründen eines kollektiven Minderwertigkeitsgefühls.

Schön, wenn es für ein Problem gleich zwei Lösungen gibt, denkt man. Doch Vorsicht! Denn damit tritt sogleich ein weiteres Problem auf: Welche der beiden Lösungen ist denn jetzt die bessere? Unterscheiden sie sich überhaupt? Und wenn ja, worin?


Meine Tochter fragte mich, „soll ich mich privat oder gesetzlich krankenversichern lassen?“ Wie immer, wenn ich dies in den fünfundzwanzig  Jahren in der Praxis gefragt wurde, so zuckte ich auch diesmal die Schultern. Denn wenn es für etwas zwei unterschiedliche Antworten gibt, hat mich das immer schon misstrauisch gemacht.

Wer will schon als Versuchskaninchen im OP landen?


Um was geht es denn eigentlich? Da ist ein Patient in spe. Er schließt eine Versicherung ab, so wie er es für seinen Oldtimer auch gemacht hat. Sie soll die Kosten übernehmen im Falle des Falles. Arztbesuch, Krankenhaus, Medikamente, Ersatzteile. Letztere exakt wie beim Oldtimer. Darauf läuft es ja irgendwann eh hinaus. Jetzt steht er vor der Frage privat oder gesetzlich? Sofern er zu der Minderheit zählt, die überhaupt eine Wahlmöglichkeit hat.
Die Notwendigkeit der PKV wird ja gerne damit begründet, der freie Bürger solle die freie Wahl haben. Das hört sich ganz nach FDP an, wobei diese das Wort Wahl gar nicht mehr gerne in den Mund nimmt.


Jedenfalls sollte jemand, der privat bezahlt, auch private Dienstleistungen abrufen dürfen: Einzelzimmer, Chefarztbehandlung, als Nachtschwester eine stets lächelnde Florence Nightingale. Frühstück mit Croissants und frisch gepresstem Orangensaft. So stellt es sich mein virtueller Privatpatient vor. Auch will er vermeiden, als Versuchsobjekt für den frisch anzulernenden Assistenzarzt auf dem Op.-Tisch festgeschnallt oder nachts statt von Florence von einem geklonten vollbärtigen Schrank mit schwarzem Judogürtel geweckt zu werden, der das kalte Neonlicht einschaltet, „guten Morgen“ brummt und das Plastikfrühstück vom Cateringservice auf das Nachtkästchen klatscht.


Und die Argumente meiner Tochter liefen alle in diese Richtung. Sie hatte offensichtlich eifrig die Diskussionen in den öffentlichen Medien verfolgt. Dabei konnte sie 20 600 Einträge im Internet unter dem Suchwort „Benachteiligung Kassenpatienten“ finden.

"Praxisgebühr" erzeugt Juckreiz wie eine Allergie

Ich will jetzt nicht all zu sehr läs­tern über diesen medialen Dialog. Doch gibt es nach meiner Erfahrung keinen wirklichen Grund für ein kollektives Minderwertigkeitsgefühl der Kassenpatienten. Jedenfalls nicht wegen einer benachteiligenden Versorgung und Betreuung im Vergleich zu den Privatpatienten. Und auch nicht bei den Terminvergaben beim Hausarzt. Ein Großteil der Patienten besorgt sich den Termin eh selbst, die sitzen im Wartezimmer ohne vorherige Anmeldung.


Und wer glaubt, eine Bevorzugung der Privatpatienten sei ein einträgliches Geschäftsmodell, der sei daran erinnert, dass in der Durchschnittspraxis die Zahl der Privatpatienten nur einen Bruchteil ausmacht. Über die Zahl der nicht weißen Schafe unter den Ärzten lässt sich natürlich dennoch streiten.
Also, alles Unsinn, oder was? „Jamei“, sagte ein Kollege, als ich ihm dies vortrug. Das ist jetzt nicht chinesisch, sondern bedeutet auf bayrisch: „Man muss das Problem differenziert sehen und es gibt keine einfache Antwort darauf.“

Beim KG-Rezept setzt Spannungskopfschmerz ein

Sollte also das kollektive Minderwertigkeitsgefühl wirklich berechtigt sein, so aus ganz anderen Gründen. Ich stelle mir dazu jetzt vor, ich komme in meine eigene Praxis als Kassenpatient: Es beginnt sogleich wie eine Allergie zu jucken, weil ich zehn Euro Eintritt zahlen muss. Während der Privatpatient neben mir belus­tigt zusieht und in „Bild der Frau“ blättert. Als ich ein Rezept für Krankengymnastik brauche, setzt ein Spannungskopfschmerz ein. Denn der Doc stößt einen abgrundtiefen  Seufzer aus. Er erklärt mir, dass er dazu erst in einem achtzig Seiten dicken Katalog der Heilmittel-Richtlinien nachschlagen müsse.  Bezüglich Indikation, Diagnosengruppe, Leitsymptomatik, Schädigung, Funktionsstörung und Ziel der physikalischen Therapie. Dazu passend könne er dann erst entscheiden, ob vorrangige Heilmittel, optionale, ergänzende oder standardisierende Heilmittelkombinationen anzuwenden sind.

Formulare so lang wie ein medizinisches Gutachten

Er wartet, ob ich schon überfordert bin und fährt dann fort: „Davon abhängig sind nämlich nicht nur die Therapien, sondern auch die unterschiedlichen Verordnungsmengen je Diagnose.“ Daraufhin, so erklärt er mir geduldig, müsse er ein Formular ausfüllen, welches einem medizinischen Gutachten entspricht. Wäre ich aber Privatpatient – und Sie verstehen vielleicht, wie schlecht ich mich jetzt fühle, vor allem, weil er es wiederholt – wäre ich also Privatpatient, so müsste er nur schreiben: „6 x KG, Dia.: LWS-Syndrom.“ Zwei Zeilen. Fertig. Und es funktionierte! Auch wenn das einen GKK-Kontrollfetischisten in den Wahnsinn treiben müsse. Zuletzt entschuldigt er sich, dass er sich nicht kürzer fassen konnte. Das liege aber in der Natur der Sache.


Übrigens, meine Tochter hat sich für eine gesetzliche Krankenkasse mit Zusatzversicherung entschieden. Eine Zusatzversicherung? Das wäre beim Oldtimer so, als würde man das Auto nicht mehr als Ganzes, sondern jedes Rad einzeln versichern. Für die verchromten Radmuttern gäbe es das Special-Care-Paket. Na ja, es ist ihre eigene reife Entscheidung. Aber wehe, sie kommt um ein Rezept für Krankengymnastik.