Gammel-Oase für Demenzkranke „Die Bewohner bekommen die Regie“

Gesundheitspolitik Autor: Dr. Anja Braunwarth

In der Gammel-Oase steht nicht Struktur an erster Stelle, sondern Autonomie und Selbstbestimmung. In der Gammel-Oase steht nicht Struktur an erster Stelle, sondern Autonomie und Selbstbestimmung. © Strassner Fotografie – stock.adobe.com

„Therapeutisches Gammeln“: Das klingt vielleicht am ehesten nach einem Konzept für ADHS-Patienten. Im nordrhein-westfälischen Marl erlebt das aber eine ganz andere Gruppe: Demenzkranke im Heim.

6:30 Uhr wecken, 6:45 Uhr waschen, 7 Uhr Frühstück, dann Physio, Ergo oder Gedächtnistraining bis zum Mittagessen um Punkt 12 Uhr etc.: So sieht meist der Alltag auf deutschen Demenzstationen aus. Nicht aber in der Gammel-Oase im Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl. Hier ist das Nichtstun Programm. Ein Bewohner geht gerne spät ins Bett und schläft lange aus: Soll er doch. Ein anderer hat heute keine Lust auf Körperpflege: Macht nichts. Die dritte hält übertags das eine oder andere Nickerchen: Prima, dafür stehen genug Sofas herum. 

„In der Gammel-Oase bekommen die Bewohner die Regie“, erklärt Dr. Stephan Kostrzewa, der Kopf hinter dem Projekt. Die Idee dazu kam dem Altenpfleger, Sozialwissenschaftler und Inhaber des Instituts für palliative und gerontopsychiatrische Interventionen schon 2017 unter der Dusche. Erstmals ausformuliert hat er das Konzept dann 2022. Er orientierte sich dafür an der palliativen Versorgung. Dort haben die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten oberste Priorität. Genau das sollte seiner Ansicht nach auch für Demenzkranke gelten. 

"Hier ist sie nicht eingesperrt“

Vor wenigen Monaten hat Helmut A. seine demenzkranke Fau in die Gammel-Oase gebracht. Sie in eine Einrichtung zu geben, fiel dem 83-Jährigen nicht leicht. Fünf Jahre hatte er sie bereits zu Hause gepflegt, dann erkrankte er selbst schwer und entschloss sich notgedrungen zu diesem Schritt. Aber er ist sehr froh, dass sie in der Gammel-Oase sein kann. „Hier ist sie nicht eingesperrt und kann tun und lassen, was sie will.“ Zudem gibt es keine Vorgaben für Besuchszeiten. Und so verbringt Helmut A. jeden Tag von morgens bis abends an der Seite seiner Frau und gehört schon fast zum Team.

Das therapeutische Gammeln ist praktisch genau das Gegenstück zur etablierten Versorgung. „Ich bin in der Pflege mit der klaren Regel großgeworden, dass Demenzkranke vor allem eines brauchen: Struktur“, berichtet Kostrzewa. Doch noch nie wurde belegt, dass die Patienten davon profitieren. In der Gammel-Oase gibt es auch keine festen Gruppen- oder Beschäftigungsangebote. „Wir wissen doch gar nicht, was die Demenzkranken wollen, also zwingen wir sie zu nichts“, sagt der 58-Jährige. Allerdings liegen an vielen Stellen  „Utensilien mit Aufforderungscharakter“, z.B. Zeitschriften, Bastelartikel etc. Sie verleiten viele Bewohner zunächst zum Hinschauen. Möchten sie sich damit beschäftigen, wird das vom Personal unterstützt, aber eben nicht aktiv forciert. Bei allem steht das Wohlbefinden der Demenzkranken an erster Stelle

Eine schnelle Übersicht über das Projekt bietet die Hausunordnung, die im Eingangsbereich hängt. Sätze wie „die Schränke sind nicht aufgeräumt oder „die Kleidungsstücke passen nicht zusammen, aber ich habe mich allein angezogen“ bilden den Charakter der Oase gut ab. Apropos Kleidung: Es gibt mehrere Garderoben, an denen Jacken, Pullover und Ähnliches hängen. Wer etwas braucht, nimmt es sich, egal, wem es gehört, passend zu einem weiteren Leitmotiv: „Mein und Dein ist nicht so wichtig“. Den Kranken macht das in der Tat nichts aus, nur die Angehörigen taten sich anfangs schwer damit, Fremde in den Sachen ihrer Verwandten herumlaufen zu sehen. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt und genauso daran, dass am Sonntagmittag niemand geschniegelt und gestriegelt im feinen Blüschen oder Oberhemd am Kaffeetisch parat sitzt. 

In jeder Ecke steht auch etwas zu knabbern, seien es Gummibärchen, Schokolade oder Erdnussflips. Und so sieht man viele zufrieden mit einem Glas Naschereien in der Hand im Sessel lümmeln. Für die Hauptmahlzeiten gibt es eine Küchenhilfe. Aber hierbei gilt gleichfalls: Wer nicht zu festen Zeiten essen möchte, wird nicht dazu gezwungen, sondern bekommt das Essen eben zu einer anderen Zeit.

Die Serial Trial Intervention

Die Serial Trial Intervention wurde in den USA entwickelt. Fünf Schritte dienen der Abklärung von Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzkranken.

  • Schritt 1: körperliches Assessment, z.B. Schmerzen abklären, Hunger/Durst abfragen bzw. Essen/Trinken anbieten
  • Schritt 2: affektives Assessment, d.h. herausfinden, was für die Person bedeutsam ist und was das Wohlbefinden stören könnte (z. B. Kontakte, Beschäftigung, fremde Geräusche) und entsprechende Maßnahmen ableiten
  • Schritt 3: nicht-medikamentöse Maßnahmen einsetzen, z.B. Massagen, tiergestützte Angebote
  • Schritt 4: testweise Analgetika geben, denn gerade Demenzkranke äußern oder zeigen Schmerzen oft nicht
  • Schritt 5: Psychopharmaka erwägen; Arzt hinzuziehen, gerontopsychiatrische Begutachtung durchführen lassen und über die eventuelle Gabe von Psychopharmaka entscheiden

Modifiziert nach Fischer T et al. Pflegezeitschrift 7/2007; 370-373

Das Pflegepersonal begleitet die Bewohner quasi auf Augenhöhe, die Pflege selbst läuft irgendwann am Tag im Hintergrund. Korrigiert wird niemand, wer meint, er wäre zu Hause oder die Mutter käme gleich zu Besuch, darf das weiter glauben. „Jede Korrektur ist eine Kränkung“, erläutert Stephan Kostrzewa. Es herrscht eine spürbare Wärme im Umgang vonseiten der Pfleger, es gibt viel Ansprache und reichlich Streicheleinheiten für die Kranken. Wer Hunger äußert, bekommt ein Brot geschmiert, wer spazieren gehen will, kann mit Begleitung rechnen. „Wir alle fühlen uns mit diesem Konzept sehr wohl“, erklärt Christian Löbel, Wohnbereichsleiter der Gammel-Oase. Da die meisten Bewohner morgens länger schlafen, wurden die Arbeitszeiten des Personals angepasst, zusätzlich arbeitet ein Betreuungsassistenten von 3:30 Uhr bis 8 Uhr morgens. 

Das Konzept der Gammel-Oase hat Stephan Kostrzewa gemeinsam mit seinem ehemaligen Sozialwissenschaftslehrer Dr. Friedhelm Lischewski entwickelt – bevor dieser selbst an Demenz erkrankte. Inzwischen lebt auch er hier. Der Einzug fiel ihm nicht leicht, Kontrolle jeglicher Art war ihm sein Leben lang ein Dorn im Auge. „Ich bin schon ein paarmal ausgebüxt“, berichtet der 75-Jährige. Er hat sich aber in der Oase seine eigene Oase eingerichtet: Ein leerstehendes Zimmer dient ihm als Büro. Dort verbringt er fast jeden Tag mehrere Stunden, liest seine Lieblingsautoren wie Foucault und macht sich Notizen. Oft greift er auch zur Flöte und spielt sich oder anderen etwas vor. 

Es kamen schon einige Heimleitungen aus anderen Städten zu Besuch, um sich die Station anzusehen. Das Konzept umzusetzen, hat sich bisher aber noch keine andere Einrichtung getraut. Die Heimleiterin vom Julie-Kolb-Seniorenzentrum, Gisela Kreutz, war damals schnell von dem Projekt überzeugt. „Das muss man einfach mal probieren“, so ihre Devise. Als ehemalige Pflegedienstleiterin kennt sie alle Arten von Pflegekonzepten aus dem Effeff und war bereit für etwas Neues. Vor einem Jahr stand dann ein Bereich im Zentrum leer und die Gammel-Oase wurde eingerichtet.  

Es gibt zwei große Gemeinschaftsräume und sieben Doppelzimmer, alle sind belegt. Die jüngste Bewohnerin ist 59 Jahre, die ältesten sind 87 Jahre alt. Auch die Doppelzimmer unterscheiden die Station von anderen: In den meisten Heimen ist man dazu übergegangen, vor allem Einzelzimmer anzubieten. „Studien haben aber gezeigt, dass sich Menschen mit (fortgeschrittener) Demenz in Mehrbettzimmern wohler fühlen“, berichtet Stephan Kostrzewa. Einzelzimmer bedienen vielmehr das Bedürfnis der Familien, ihre kranken Angehörigen möglichst „hotelähnlich“ unterzubringen. 

Negative Erfahrungen wurden bisher nicht gemacht. Wenn jemand Aggressionen zeigt, gehen die Betreuer mittels Serial Trial Intervention (s. Kasten) auf Ursachensuche. „Die Menschen haben immer einen Grund“, betont Stephan Kostrzewa. 

Schon früh wurden die Hausärzte und Neurologen aus der Region mit eingebunden, nicht alle waren von dieser Art Versorgung begeistert. Inzwischen gibt es aber einen Pool von Ärzten, die das Ganze mittragen. Vor dem Einzug in die Gammel-Oase erfolgt ein gründlicher Check, insbesondere auch der Medikation. Gerade Psychopharmaka werden sehr kritisch überprüft. „Zur Ruhigstellung gibt es sie bei uns nicht“, unterstreicht Stephan Kostrzewa. Entsprechend erfolgt häufig eine Anpassung der Therapie – mit teils überraschenden Erfolgen. Bei einer Bewohnerin, die wegen vermeintlich großer Aggressivität bereits aus zwei Heimen wieder entlassen worden war, stellte sich heraus, dass sie unter starken Schmerzen litt. Nach Reduzierung ihrer Psychopharmaka und unter einer adäquaten analgetischen Therapie hat sich die Frau in der Gammel-Oase inzwischen gut eingefügt. Bei einer anderen Bewohnerin gelang es sogar, sie wieder zurück in das betreute Wohnen zu entlassen.

Quelle: Medical-Tribune-Bericht