Mehr Arzttermine gefordert „Gier nach unbezahlten Leistungen“

Gesundheitspolitik Autor: Michael Reischmann

Der Vorschlag, die Mindestsprechstunden in Praxen zu erhöhen, sorgt bei der Ärzteschaft für Unmut. Der Vorschlag, die Mindestsprechstunden in Praxen zu erhöhen, sorgt bei der Ärzteschaft für Unmut. © Thomas Reimer – stock.adobe.com

Ob die beiden Vorsitzenden des Ersatzkassenverbandes noch einfach und schnell Arzttermine bekommen? Uwe Klemens und Ulrike Elsner haben sich vermutlich bundesweit bei der Ärzteschaft unbeliebt gemacht. Denn sie fordern den Gesetzgeber auf, für mehr Mindestsprechstunden, Online-Terminsysteme und ggf. auch Sanktionen zu sorgen. „Realitätsfern und unverschämt“ finden das KV-Vertreter.

Kurz vor Ende der vdek-Neujahrs­pressekonferenz konkretisierte Ulrike Elsner auf Nachfrage hin, dass sie sich für einen vollen Vertragsarztsitz eine Mindestsprechstundenzeit von 30 statt der bisherigen 25 Wochenstunden vorstellen kann. Zumal dies bei kalkulierten 51 Wochenstunden dem Praxisinhaber noch „genug Raum lasse, um andere Aufgaben zu erledigen“. Medienkundigen war klar, dass sie damit die vorherigen Ausführungen über die GKV-Finanzlage, Klimaneutralität und Notfallversorgung pulverisiert hatte. Jetzt war die sprichwörtlich getriebene Sau von der Leine gelassen. 

Zumal ihr Vorstandskollege Uwe Klemens schon provokativ vorgelegt hatte, indem er über den „Entbudgetierungsmist“ nach dem Krisengespräch der Ärzte im BMG wetterte. Die Lauterbach‘schen Verheißungen würden die Kassen weitere zwei Mrd. Euro kosten. Dabei zahlten diese in diesem Jahr bereits voraussichtlich 50 Mrd. Euro für Arzthonorare – 20 % mehr als 2018. 

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) spricht von überschlägig drei Mrd. Euro. So viel würde das Beseitigen der Budgetgrenzen für alle Haus- und Facharztpraxen plus die versprochene Aufwertung der Strukturpauschale für rund 30.000 Hausarztpraxen, eine verbesserte Jahrespauschale für die hausärztliche Versorgung chronisch kranker Patienten sowie die hausärztliche Hitzeberatung kosten.

Auch einen Tag später versuchte der Ersatzkassenverband nicht, die Ärztefunktionäre wieder von der Palme runterzuholen. Vielmehr pochte er per Presseinfo nochmals auf seine Vorschläge (siehe Kasten). 

Vorschläge des vdek für mehr flotte Arzttermine

  • Erhöhung der Mindestsprechstundenzeiten für gesetzlich Versicherte.

  • Festlegen eines Mindestanteils konservativer Behandlungen (in Bereichen mit hohem OP-Anteil, z.B. bei Augenärzten).

  • Jede Arztpraxis muss Patienten ermöglichen, Termine online zu buchen und Folgerezepte anzufragen. 

  • Jede Arztpraxis muss selbst oder in Kooperation mit anderen Ärzten – sofern medizinisch sinnvoll – Videosprechstunden anbieten.

  • Vor einer Überweisung ist die Möglichkeit von Telekonsilien zu prüfen.

  • Jede Arzpraxis muss auf der eigenen Website über Sprechstundenzeiten, insbesondere zur offenen Sprechstunde, informieren.

  • Arztsuchen der KVen vereinheitlichen und mit den Terminservicestellen (TSS, 116117.de) verknüpfen. Erweiterung um Angaben zu Schwerpunkten, Weiterbildungen und besonderen Leistungen.

  • Ständiger Onlinezugriff der TSS und KV-Notfallpraxen auf die Praxisverwaltungssysteme, um „einfach und schnell“ freie Termine an Akutpatienten vermitteln zu können. Auch die Termine bei ­Anbietern wie Doctolib, ­samedi oder Jameda müssen über die TSS verfügbar sein. 

  • Die TSS müssen von den KVen öffentlich breiter bekannt gemacht werden und besser erreichbar sein.

  • Stärkere Überprüfung, ob Vertragsärzte ihre Versorgungsaufträge einhalten, durch die KVen – mit „einheitlichen Vorgaben und höheren Standards“. Die Ergebnisse müssen im Internet veröffentlicht werden.

  • Vertragsärzte müssen einen zuvor festgelegten, fachgruppenspezifischen Anteil an freien Terminen an die TSS melden.

  • Das Einhalten der vertragsärztlichen Pflichten zu Sprechstunden und Terminvergabe ist mit gesetzlich vorgesehenen Sanktionen durchzusetzen. Siehe Honorarkürzungen bei Verstoß gegen Fortbildungspflichten oder fehlender TI-Anbindung.

  • Schriftliche Bestätigung der KV für den Versicherten, wenn weder ein Termin in der vertragsärztlichen Versorgung noch im Krankenhaus vermittelt werden konnte.

  • Vertragsärzte dürfen gesetzlich Versicherten EBM-Leistungen nicht als Selbstzahlerdienste anbieten (zudem Verbot sog. Komfortsprechstunden).

  • Mehr Delegation und Substitution mit NäPA, Physician Assistants etc. 

  • Überprüfen des Vergütungssystems, wie Fehlanreize für unnötige Arzt­besuche abgebaut werden können.

  • Entlasten der Arztpraxen z.B. durch neue Verfahren bei der Verordnung von Dauermedikation.

Diese „bedeuten einen massiven Eingriff in den Betriebsablauf einer Praxis, sind damit fernab der Realität und völlig absurd“, kommentiert die KV Berlin. Und Dr. Doris Reinhardt, Vize der KV Baden-Württemberg, führt aus: „Eigentlich dachten wir, dass sich inzwischen rumgesprochen hat, dass unsere Ärztinnen und Ärzte am Limit und die Wartezimmer voll sind. Wie man bei zurückgehenden Kapazitäten auf die Idee kommen kann, noch mehr Leistungen zu fordern, die dann auch nicht einmal vergütet werden, erschließt sich mir nicht.“ 

„Wer jetzt noch mehr Sprechstunden bei einer Ausweitung der Budgetierung fordert, der kultiviert die eigene Gier nach unbezahlten Leistungen. Das ist vorsätzliche und fortgesetzte Zechprellerei“, meint der Bundesvorsitzende des Virchow­bundes, Dr. Dirk Heinrich. „Steuerungswahn und Allmachtsfantasien der vdek-Spitze passen nicht in eine Zeit, in denen Ministerium und Ärzteschaft ernsthaft um den Fortbestand der ambulanten Versorgung ringen.“ Auch der Hausärztinnen- und Hausärzteverband kritisiert das „längst überholte Lagerdenken“ beim Ersatzkassenverband. „Mit einem konstruktiven Austausch hat das nichts zu tun.“

Zulassung nicht voll genutzt? Praxen können das erklären

Schon als Jens Spahn (CDU) als Bundesgesundheitsminister 2018 das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vorbereitete, hatte das Zi darauf hingewiesen, dass die Betriebszeiten der Praxen durchschnittlich 38,8 Wochenstunden betragen. Seinen gesetzlich versicherten Patienten widme ein Praxisinhaber 35,8 seiner durchschnittlich 51,5 Stunden Wochenarbeitszeit.

Dennoch regelte Schwarz-Rot mit dem TSVG, dass die KV prüfen müssen, ob die Praxen ihre Mindeststundenzahl einhalten. Tatsächlich fallen den KVen aber nur wenige Praxen auf, die ihren Auftrag nicht erfüllen. 

Beispiel Niedersachsen, hier ergab die Überprüfung für 2022 (die 2023er Zahlen liegen im Mai vor): Von 16.220 Ärzten und Psychotherapeuten hielten 396 (2,4 %) ihren Versorgungsauftrag nicht in vollem Umfang ein. Sie wurden um eine Stellungnahme gebeten. 343 konnten eine plausible Erklärung abgeben, etwa Krankheit, Mutterschutz, Pflege von Angehörigen, Tätigkeit als Durchgangs- oder Kurarzt, überdurchschnittlich viel abgesagte Termine (während der Pandemie). 39 Mitglieder erhielten einen offiziellen Bescheid zur Erweiterung ihrer Sprechzeiten. In fünf Fällen wurde die volle Zulassung in eine Teilzulassung umgewandelt. Lediglich neun Kontrollierten wurde der Quartals­umsatz um 10 % gekürzt. Das endet erst, wenn die/der Betroffene die Sprechstundenzahl des Versorgungsauftrages erreicht hat. Auch die KVWL berichtet: Mehr als 17.000 geprüfte Versorgungsaufträge führten unterm Strich zu drei Auffälligkeiten mit Zulassungsentzug.

Dem vdek genügt dieses Vorgehen jedoch nicht. Er fordert eine stärkere Überprüfung der Praxen, wobei die KVen „höhere Standards“ einhalten sollen. Zudem müssten die Ergebnisse im Internet publiziert werden.

Auch für die Terminservicestellen (TSS) hat der Ersatzkassenverband mehrere Ideen parat. Die KV Berlin weist jedoch darauf hin, dass für den Großteil der Arztgruppen der TSS ausreichend Termine vorliegen. Für einige Arztgruppen sei die Meldung einer festgelegten Anzahl von Terminen allerdings verpflichtend. 

Bei Rheumatologen, Neurologen und Kardiologen übersteigt die Nachfrage das Angebot, informiert ­Detlef Haffke, Pressesprecher der KV Niedersachsen. „Ein verpflichtendes Kontingent macht keinen Sinn. Diese Fachgruppen sind schon ohne die TSS-Fälle terminlich ausgelastet.“ Ihm fällt auf: 20 % der durch die TSS vermittelten Termine nehmen die Patienten nicht wahr.

Die KVWL berichtet für 2022: Die Praxen haben 814.002 Termine an die TSS gemeldet. „Demgegenüber stehen 165.872 Terminbuchungen.“ Die Anbindung von PVS und eTerminservice der KV befänden sich in Vorbereitung. „Dieses Vorhaben unterstützen wir ausdrücklich.“

Für Bares gibt‘s Rares: der Selbstzahlerkomforttermin.

Die vdek-Vorsitzende Elsner glaubt dennoch, dass sich weitere Termine aus den Praxen herauskitzeln lassen. Sie zielt u.a. auf die „Komfortsprechstunde“. Versicherte berichteten, dass sie keine zeitnahen Termine auf Chipkarte bekommen, ihnen die Praxis aber baldige Komforttermine verspreche, wenn sie als Selbstzahler vorstellig würden. Ein solches Verhalten steht nicht im Einklang mit den vertragsärztlichen Pflichten, findet Elsner. Die Praxen existierten dank der GKV-Beiträge. Man müsse sich entscheiden, ob man als Vertrags- oder Privatarzt tätig sein will.

Medical-Tribune-Bericht