Josef Hecken: Es gibt keine funktionierende Alternative zum G-BA

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Aus dem im Jahr 2004 errichteten Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ist ein mächtiges Gremium geworden. Josef Hecken, der unparteiische Vorsitzende des G-BA, nimmt im Interview Stellung zu den neuen Aufgaben des G-BA.

?Laut Koalitionsvertrag kommen etliche neue Aufgaben auf den G-BA zu. Wie ist das zu schaffen?


Hecken: Die Bestandsmarktbewertung, die große Kapazitäten gebunden hätte, fällt jetzt weg. Und viele Dinge aus dem Koalitionsvertrag kommen auch nicht ganz neu auf uns zu. Die Qualitätssicherung zum Beispiel gehört längst zu unseren Aufgaben. Das Aqua-Institut hat bisher schon zahlreiche Aufträge zur Qualitätssicherung abgearbeitet.

Allerdings musste das Institut alle vier Jahre neu ausgeschrieben werden, was zu Reibungsverlusten führte. Nun soll das im Gesetz vorgesehene Institut in eine andere Form überführt werden; dies, wie auch die weiteren Aufgaben laut Koalitionsvertrag, wird die Kapazitäten des G-BA nicht überfordern.



?Die Qualität der Versorgung ist doch sicher ein weiteres Feld.


Hecken: Eine große Herausforderung, auf die wir uns einstellen müssen, sind die Aufgaben zum Stichwort Pay-for-Performance. Es geht um die Entwicklung risikoadjustierter Kriterien, die für eine qualitätsabhängige Vergütung unabdingbar sind. In der Praxis ist dies schwer rechtssicher umzusetzen, weil Pay-for-Performance eine sektorenübergreifende Betrachtung von Behandlungsverläufen mit – wie gesagt – risikoadjustierten Kriterien voraussetzt.

Die wissenschaftliche Grundlage soll uns das Qualitätsinstitut liefern. Das Aqua-Institut hat mit 90 bis 110 Mitarbeitern an den bisherigen Aufgaben gearbeitet, dar­an kann man den großen Aufwand erkennen und sehen: Die neuen Aufgaben werden nicht innerhalb von ein oder zwei Jahren zu schaffen sein.



?Wie sieht der Zeitrahmen für die Errichtung des Instituts aus?


Hecken: Sobald das Qualitätsinstitut im Gesetz steht, können wir mit dem Aufbau beginnen. Ein neues Institut muss spätestens Ende 2015 arbeitsfähig sein, weil dann der Vertrag mit dem Aqua-Institut endet.



?Der G-BA soll auch vier planbare Leistungen benennen, für die die Kassen modellhaft Qualitätsverträge mit einzelnen Krankenhäusern abschließen können.


Hecken: Das kann erst entschieden werden, wenn im April das gemeinsame Gutachten von GKV und Krankenhausgesellschaft zu Leistungsmengen vorliegt. Wir werden dann relativ schnell in der Lage sein, vier mengenanfällige Leistungsbereiche zu identifizieren.

Mögliche Fel­der sind nach meiner Einschätzung Hüftendoprothesen und Knie-TEP, eventuell auch die katheterbasierte Aortenklappenimplantation. Die TAVI-Zahlen steigen jährlich, möglicherweise wegen der höheren Vergütung, während die Zahlen beim klassischen Aortenklappenersatz stagnieren. Die TAVI könnte aber auch eines der von uns für das Zweitmeinungsverfahren zu bestimmenden vier Behandlungsfelder werden.


?Der G-BA sei zu komplex, zu langsam und innovationsfeindlich, sagen Kritiker.


Hecken: Viele schimpfen über den G-BA. Es gibt aber keine funktionierende Alternative. Über die lange Dauer mancher Verfahren ärgere ich mich ebenfalls. Die Evidenzprüfung zur Wirksamkeit der Ernährungsberatung läuft zum Beispiel seit 14 Jahren.

Auch in der Methodenbewertung gibt es lange Verfahrensdauern, was allerdings daran liegt, dass viele Studien zu berücksichtigen sind oder neue in Auftrag gegeben werden müssen. Denken Sie an die Bewertung der PET-CT, auch hier ist die lange Verfahrensdauer der notwendigen Klärung der Evidenzlage geschuldet. Anders ist es bei AMNOG-Verfahren: Diese werden nach sechs Monaten regelhaft abgeschlossen, wie es das Gesetz vorsieht.



?Im G-BA gibt es teils heftige Diskussionen vor Entscheidungen. Beispiel: die ambulante spezialfachärztliche Versorgung. Ist Streit vorprogrammiert?


Hecken: Es gibt Themen, die sehr heftig diskutiert werden. Konflikte sind Ausdruck von zum Teil unterschiedlichen Interessenlagen – so ist der G-BA ja angelegt. Denn hinter jeder Entscheidung steht auch die Frage bei Leistungserbringern und Kassen, welche Erlöse zu erzielen sind bzw. was wie viel kostet.

Etwa 80 % der Entscheidungen werden allerdings im Konsens gefällt. Sehr positiv sehe ich, dass wir im konfliktanfälligen Bereich der Arzneimittelbewertungen den weitaus größten Teil der Entscheidungen einstimmig und mit Zustimmung der Patientenvertreter treffen.


?Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz setzt die pharmazeutischen Unternehmen stark unter Druck. Ist das der richtige Weg?


Hecken: Mit dem AMNOG ist Deutschland auf einen Pfad eingebogen, den andere Länder längst gehen. Freie Preisbildung im Bereich patentgeschützter Arzneimittel gibt es heute nur noch in Russland, Mexiko und China. Auch in den USA werden Verhandlungen zwischen Krankenkassen und pharmazeutischen Unternehmern geführt.



?In Vorbereitung des AMNOG ging die Regierung von 1250 Euro Kosten pro Dossier aus. Tatsächlich sind es erheblich mehr.


Hecken: Die Kritik an den jetzigen Kosten nehme ich mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis. Man hat damals geschätzt und sich nicht an dem Aufwand für bestmögliche Evidenz orientiert. Schon bei den ersten Bewertungen wurde jedoch sichtbar, dass es sich um hoch konfliktive Bereiche handelt und Entscheidungen gerichtsfest sein müssen.

Wir haben heute Dossiers von 10 000 bis 30 000 Seiten plus Anhänge und Studien, die aus diversen Sprachen ins Deutsche übersetzt werden müssen. Kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments bis zur Zulassung beispielsweise zwischen 500 Millionen und einer Milliarde US-Dollar und die Nutzenbewertung, die den Zusatznutzen eines Produktes für die Solidargemeinschaft darlegen soll, eine Million Euro, dann ist das ein angemessenes Verhältnis.

Wir haben inzwischen 70 frühe Nutzenbewertungen beschlossen. Fünf Markt­austritte sind daraufhin erfolgt, dar­unter Linagliptin und Retigabin. Es wären sicher mehr, wenn die Ergebnisse wirklich so unerträglich wären, wie zuweilen dargestellt.



?Was muss die Politik unbedingt noch auf die Agenda nehmen?


Hecken: Es muss möglich sein, auch schon lange auf dem Markt vorhandene Arzneimittel, die ein neues Anwendungsgebiet inklusive Patentschutz bekommen, einer Nutzenbewertung zu unterziehen. Typisches Beispiel ist ein Krebspräparat, das ein Revival als Medikament zur Therapie der Multiplen Sklerose erlebt.

Hier wurde nicht geprüft, ob das Nebenwirkungspotenzial, das für einen Tumorpatienten am Lebensende möglicherweise noch tolerabel ist, auch für MS-Patienten zumutbar wäre. Ich halte es für wichtig, dass die Politik das aufgreift und diese eklatante Lücke im AMNOG-Verfahren im Interesse der Patienten­sicherheit schließt.