Diabetisches Fußsyndrom Kampagne gegen vermeidbare Amputationen gestartet
Der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), Dr. Michael Eckhard aus Gießen, nennt Zahlen: „Jedes Jahr haben wir in Deutschland 250.000 Neuerkrankungen am Diabetischen Fußsyndrom.“ Hinzu kommen die Patienten, die noch an aktiven Fußproblemen der letzten Jahre laborieren: „Insgesamt zu behandeln haben wir jedes Jahr um die 600.000 Patienten.“ Amputiert werde in der Größenordnung von 40.000 im Jahr. „Durch eine frühzeitige strukturierte Behandlung verhindern lassen sich – das ist tatsächlich nur eine Schätzung – etwa 70 bis 80 %“, sagt Dr. Eckhard.
Während der Diabetes Herbsttagung von DDG und Deutscher Gesellschaft für Angiologie stellte die Arbeitsgemeinschaft ihre Kampagne „Amputation – NEIN Danke!“ vor. „Eine dringend erforderliche Kampagne“, wie Dr. Eckhard findet. Diese richtet sich zunächst an von einer Amputation bedrohte Menschen mit Diabetes und an deren familiäres Umfeld. Hier stehen diese Fragen im Vordergrund: Gibt es noch andere Möglichkeiten als eine Amputation? Und wo und wie findet man diese?
Informationen für Patienten, Angehörige und Hausärzte
In zweiter Linie adressiert die Kampagne hausärztlich oder diabetologisch tätige Ärzte sowie andere Behandelnde, die sich mit der Versorgung von Menschen mit Diabetischem Fußsyndrom (DFS) befassen und deren Patienten von einer Amputation bedroht sind: Auch sie finden auf der Website amputation-nein-danke.de wichtige Informationen, insbesondere zum Zweitmeinungsverfahren, die dabei helfen können, den schwerwiegenden Eingriff zu verhindern.
Was das Informationsportal bietet
Wer sich als Betroffener oder als Behandlungsteam über das Zweitmeinungsverfahren informieren möchte, findet auf amputation-nein-danke.de:
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Details zum Zweitmeinungsverfahren
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Bundesweit gültige Telefonnummer für die Suche nach Zweitmeinenden und Links zu zertifizierten Fußzentren
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Wichtige Hinweise für das Fachpublikum
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Drei Podcasts (zu Gast: Dr. Markus Menzen, Dr. Dirk Hochlenert, Dr. Joachim Kersken, Diabetologen und Experten für das Diabetische Fußsyndrom) und ein Video mit Dr. Michael Eckhard, Sprecher der AG Diabetischer Fuß
Die Kampagne richte sich auch an die Krankenversicherungen und an die Gesundheitspolitik, sagt Chefarzt Dr. Eckhard. „Denn was nutzen uns die besten Absichten auf Behandlerseite, wenn sich das, was hinsichtlich des Erhalts von Extremitäten sinnvoll und gut wäre, finanziell schlecht darstellt – und wenn es sich für ein Krankenhaus wirtschaftlich eher lohnt, ein Bein frühzeitig zu amputieren, als Maßnahmen einzubringen, den Fuß zu erhalten?“
Aktuelle Meldungen, Videos und Podcasts mit Experten
Deshalb war die Aufnahme der Amputations-Überprüfung beim Diabetischen Fußsyndrom in die Zweitmeinungs-Richtlinie des G-BA schon lange ein Anliegen der AG Diabetischer Fuß. Als das 2021 geschah, erfreute sie dies sehr. Doch nun gilt es auch, das Verfahren in die Routine zu überführen und für die Nutzung zu werben.
„Ihr gutes Recht: Zweitmeinungsverfahren“ heißt es auf der Kampagnenseite. Dort kann man sich darüber informieren, wie das Einholen einer zweiten Meinung abläuft und welche Rechte man hat. Unter „Aktuelles & Multimedia“ gibt es Podcasts und Videos von Experten sowie aktuelle Meldungen.
Wichtig sind die Hinweise, dass der Arzt, der die Indikation für eine Operation stellt („Erstmeiner“), verpflichtet ist, auf den Anspruch auf eine zweite Meinung hinzuweisen. Dies soll bestenfalls einige Tage vor dem geplanten Eingriff erfolgen, damit Patienten ausreichend Zeit haben, zu entscheiden, ob sie einen Experten konsultieren möchten – z.B. in den von der AG Diabetischer Fuß zertifizierten Fußbehandlungseinrichtungen.
Wichtig ist: Das Zweitmeinungsverfahren ist für Patienten kein Muss, sondern ein freiwilliges Angebot. Ziel ist es, dass der Zweitmeiner die medizinische Notwendigkeit des empfohlenen Eingriffs prüft und seine Einschätzung erläutert. Es kann durchaus sein, dass er die ursprüngliche Empfehlung zum Eingriff teilt, eine andere Behandlung empfiehlt oder von Maßnahmen abrät.
Zweitmeinung, Vernetzung: „Halbierung ist möglich!“
PD Dr. Kilian Rittig, niedergelassener Facharzt für Innere Medizin, Angiologie und Diabetologie in Teltow sowie einer der beiden Präsidenten der Herbsttagung, sagt: „Wir sehen immer wieder Patienten, die eine Amputation erhalten, die aber nie einen Angiologen oder Diabetologen gesehen haben – von der Beteiligung an einem Zweitmeinungsverfahren ganz zu schweigen. Es hat in diesen Fällen oft keine Gefäßdarstellung stattgefunden. Das ist ein No-Go und nicht leitliniengerecht. Das ist etwas, was aufhören muss.“
Wozu Vernetzung und eine Zweitmeinerstruktur führen können, veranschaulichte der Diabetologe Dr. Dirk Hochlenert im Symposium „Zweitmeinung bei DFS“: Frühe Zahlen von 2013 aus dem Netzwerk Diabetischer Fuß Köln und Umgebung e.V. zeigten, dass zunächst von 22 Amputationsdiagnosen 12 durch den Zweitmeiner bestätigt wurden – „aber eben auch 10 nicht!“ Seither sind Zweitmeiner dort im Routinebetrieb tätig. „Man sieht am Anfang einen starken Effekt. Das verblasst im Laufe der Zeit, weil die Meinungen sich angleichen“, berichtet Dr. Hochlenert. Sprich: Es kommt zu mehr Bestätigungen der Erstmeinung, weil sich die Meinungen durch das Netz harmonisieren. Aber am Anfang, so Dr. Hochlenert, „ist die Halbierung der Amputationen möglich.“
Das Zweitmeinungverfahren des G-BA hat als „realistischen Hintergrund“ die Gefahr einer Indikationsausweitung, sagt der Berliner Gefäßchirurg Dr. Frank Schönenberg. Der Chefarzt hat allerdings festgestellt, dass die sieben Zweitmeiner in der Hauptstadt bislang sehr wenig um eine Einschätzung gebeten wurden. Er sieht es aber als Vorteil an, wenn das Verfahren zu einer Zentralisierung führt, also Patienten gezielt die ambulanten und stationären Fußzentren ansteuern.
„Das ist noch nicht komplett fertig, das wird wachsen“, sagt Dr. Eckhard zur Kampagnen-Webseite und zur öffentlichen Verbreitung des Themas. „Wir freuen uns, dass auf dieser Seite diese wichtigen Informationen zusammengetragen werden.“ Dazu gehört aber auch die Tatsache: Nicht in allen Fällen lässt sich eine Amputation vermeiden. Manchmal kann sie lebensrettend sein oder in Abwägung aller Für und Wider in der individuellen Situation die bessere Variante.
Kongressbericht: Diabetes Herbsttagung 2022