Elektronische Patientenakte Kommentar: ePA – trotz alledem!

diatec journal Autor: Manuel Ickrath

Die ePA stellt das Herzstück der Digitalisierung des Gesundheitswesens dar. Doch ein überambitionierter Datenschutz sowie unausgegorene politische Entscheidungen gefährden die Implementierung. Die ePA stellt das Herzstück der Digitalisierung des Gesundheitswesens dar. Doch ein überambitionierter Datenschutz sowie unausgegorene politische Entscheidungen gefährden die Implementierung. © Fokussiert – stock.adobe.com

Seit Monaten erleben wir ein wildes Gezerre um die elektronische Patientenakte (ePA). Wer blickt da noch durch? Hoffentlich die neue/alte Gematik? Die Ärzte halten angesichts der vielen offenen Fragen den Atem an. Wo soll der Optimismus denn herkommen? Es ist Zeit, wieder an die Vision zu erinnern, meint Manuel Ickrath.

Die Probleme rund um die ePA-Einführung zum 1. Januar 2025 werden immer komplexer. Vor allem die Technik der Telematikinfrastruktur funktioniert nicht. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geht davon aus, dass ein flächendeckender Test in Arztpraxen nicht notwendig ist. Das macht die Sache natürlich brisant. Die Erfahrungen bei der Einführung des E-Rezepts lassen vergleichbare Pannen erwarten, nur auf einem noch höheren Produktlevel.

Für die Gematik ist das E-Rezept eines von mehreren Produkten, die ePA allerdings stellt das Herzstück der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens dar. Wenn hier die roten Linien reißen, droht das große Ganze zu scheitern. Nach über 20 Jahren Rumdoktern an der elektronischen Patientenakte darf sich das ein deutscher Gesundheitsminister einfach nicht erlauben. Der Glaubwürdigkeitsverlust wäre nicht wiedergutzumachen, vor allem weil Lauterbach schon bei seinen anderen „Revolutionen“ im Gesundheitswesen wenig glaubwürdig auftritt – von der Krankenhausreform bis zu Cannabislegalisierung und Entbudgetierung.

Die Telematikinfrastruktur funktioniert heute noch nicht

Die neuesten Nachrichten zeigen heftige Kontroversen zwischen einer KBV, die sich endlich kooperativ zeigt und mehrere Informationsbroschüren zur ePA aufgelegt hat, und Herstellerverbänden, die schon einmal vorsorglich darauf hinweisen, die Broschüren informierten irreführend. Einige dargestellte Funktionen seien aus „monoperspektivischer Sicht“ (also aus rein ärztlicher Sicht) erklärt. Ja, aus welcher Sicht denn sonst?

Wenn die Ärzte mit der ePA und ihren Funktionen nicht zurechtkommen, wird die ePA scheitern. Wie oft muss dieser Satz denn noch wiederholt werden! Es geht hier konkret um das weiterhin störanfällige VDSM (Versichertenstammdatenmanagement) und den automatischen Zugriff auf Patientendaten, so angekündigt bei der KBV. Nein, automatisch wird es nicht funktionieren, widerspricht der Herstellerverband und verirrt sich im Gestrüpp von Opt-out und Opt-in.

Der scheidende oberste Datenschützer Ulrich Kelber nutzt seine letzten Interviews weiterhin dazu, gegen die ePA zu wettern. Er macht alles dermaßen kompliziert, dass sich natürlich diejenigen, die die ePA vom Grundsatz her ablehnen, bestätigt fühlen. Kein Opt-out, noch kompliziertere Anmeldeverfahren für die Patienten, noch mehr strukturierte Daten, moniert er. Dass auch die Krankenkassen nun laut Digitalgesetz Zugriff auf Patientendaten haben dürfen, um auf Gesundheitsrisiken aufmerksam zu machen, gefällt Kerber ganz und gar nicht. Will er überhaupt die ePA oder sucht er nach Gründen, sie unmöglich zu machen? Die Mehrheit der Deutschen will keinen übertriebenen Datenschutz. Kelber führt weiterhin unverdrossen die Karawane der Sand-ins-Getriebe-Streuer an.

Unbedingt ernst nehmen müssen die Macher der ePA die Anträge des Deutschen Ärztetags zur ePA – wenn denn der Satz „Die ePA muss zuerst der Ärzteschaft passen“ gültig ist. Mehr Transparenz, leichtere Verknüpfung mit den Vorbefunden und weniger Bürokratie mit der Dokumentation, so lauten die Forderungen, vor allem fehle eine der Grundanforderungen an die ePA: der digitale Medikationsplan. Gerüchte halten sich hartnäckig, der Medikationsplan komme verspätet oder nur in Teilen. Auch fehlt wohl Sensibilität im Umgang mit schwerkranken Patienten: Kritische Befunde sollten erst nach einem klärenden Gespräch zwischen Arzt und Patient in die ePA und nicht bereits vor der Aufklärung, kritisiert die KBV. Dies lässt sich bis jetzt nicht eindeutig festlegen.

Dass der Arzt in der ePA nicht sehen kann, was der Patient gelöscht hat, ist allerdings eine Forderung, die man nicht ernst nehmen kann. Sieht der Arzt denn heute im noch analogen Zeitalter alle Diagnosen und Rezepte? Natürlich nicht. Das ist kein Argument gegen die ePA.

Interoperabilität und PVS – endlich lösbar?

Dennoch: Für das BMG und die technische Agentur Gematik sind dies riesige Herausforderungen, die noch zu bewältigen sind, soll der Start zum 1. Januar 2025 nicht voll in die Hose gehen. Wider Erwarten wird die Gematik entgegen dem Koalitionspapier der Ampel unverändert eine bundeseigene GmbH bleiben, nur mehr Kompetenzen und Entscheidungsspielräume soll sie erhalten. Das ist eine gute Nachricht, denn eine komplette Neuordnung hätte den Zeitplan vollends gesprengt.

Den Verantwortlichen der Gematik, die zurzeit die Entscheidungen treffen, ist es zuzutrauen, dass sie die Hürden erfolgreich nehmen und auch das kniffligste Problem lösen: die Hersteller von Praxisverwaltungssystemen (PVS), deren Geschäftsmodell infrage steht, strafbewehrt zur Interoperabilität zu zwingen. Denn diese sind es, die den Ärzten jede technische Innovation, auch die ePA, schwer machen, da sie Schnittstellen verhindern, die sie verkaufen wollen, und blockieren den Wechsel von einem zum anderen, vielleicht flexibleren Anbieter. Das müssen Politik und Gematik endlich und vordringlich lösen. Wenn es gelingt, wird man die anderen Anforderungen Punkt für Punkt umsetzen können.

Was ist denn die Alternative? Der Unterhaltungswert eines ständig floppenden Gesundheitsministeriums und einer sich absehbar um weitere Monate und Jahre verschiebende Digitalisierung geht mittlerweile gegen null. Warten auf die neue Regierung? Das wäre naiv, denn auch diese wird bei knappen Mehrheiten neue Kompromisse machen müssen, nachdem sie sich erst einmal monatelang mühsam konstituiert haben wird, mit neuem Personal, neuen Ideen. Wieder wären ein bis zwei Jahre vorbei ohne funktionierende ePA. Eine Minderheit wird genau das wollen. Die Mehrheit der Ärzte und die ganz große Mehrzahl der Patienten wollen dies nicht!

Die Mehrheit sieht, dass die Medizin, auch die Diabetologie, nicht mehr richtig funktioniert, jedenfalls könnte sie besser sein. Immer mehr Patienten treffen auf immer weniger Ärzte. Viele Ärzte arbeiten heute weniger Stunden, als es frühere Ärztegenerationen getan haben. Überall fehlt das (bisher zu schlecht bezahlte?) Personal. Die Patienten warten monatelang auf ihre Termine, bei der Fußuntersuchung, beim Augenarzt. Ob Patienten deswegen vielleicht früher ihr Augenlicht verlieren, ist dem System egal. Dem Behandler auch?

Seit Jahren wird über die Sektoren geklagt, die nicht miteinander kommunizieren. Interessiert das irgendeinen Entscheider? Nach wie vor reden PVS und KIS (Krankenhausinformationssysteme) nicht miteinander, nach wie vor malen Datenschutzaktivisten den Teufel an die Wand! So sieht es leider in Deutschland im Jahr 2024 aus. Jeder erlebt es doch direkt oder in seinem familiären Umfeld, wie hilflos nicht nur die Patienten im Krankenhaus sind, sondern wie hilflos sich auch die Ärzte auf analogem Weg abmühen, an irgendwelche Informationen entweder vom Patient oder von anderen Behandlern zu kommen – und wie selten das gelingt.

Wie lautet die Vision?

Mit einer funktionierenden Digitalisierung würden alle notwendigen Informationen wie Indikation, Medikamentenplan, Nebenerkrankungen, Vorbefunde und vieles mehr in der ePA zusammenlaufen. Diagnostik und Therapie würden dann, wenn die Zeit drängt, beschleunigt, die Prozesse verschlankt, die Strukturen gestärkt (KI ersetzt langfristig fehlendes Personal!). Benchmark und Therapieempfehlung würden jeden Behandler „besser“ machen. Das ist die Vision. Ein weiter Weg noch, wird auch jeder Freund von Digitalisierung zugeben. Aber lohnt es sich nicht, diese Vision immer wieder positiv anzugehen?

Es ist schade, dass in diesen unruhigen Zeiten, in denen alles auf den Prüfstand gestellt wird (meist ohne sinnvolle Lösungen anbieten zu können – siehe Klinikreform), der primäre Fokus von der Digitalisierung weggenommen worden ist. Was ist mit den 4,3 Milliarden Euro geworden, die in die Digitalisierung der Kliniken investiert worden sind? Die Kliniken kämpfen zurzeit um ihr Überleben, zerrieben zwischen zahlungsunwilligen Ländern, eitlen Landräten, einem ideologisch agierenden Gesundheitsminister, den Renditeerwartungen von Klinikbetreibern und nicht zuletzt dem aufflackernden Bundestagswahlkampf. Da ist wenig bis keine Zeit für Digitalisierung. Da passt ja noch nicht einmal der Wunsch nach Anerkennung der Diabeteszertifizierung im Klinikbereich ins zum Bersten gespannte Konzept.

Entbudgetierung als Gefahr für Diabetologen

Wie sieht es im ambulanten Bereich aus? Nein, da gibt es kein Praxiszukunftsgesetz mit Milliardenbeträgen für Digitalisierung wie bei den Kliniken. Dafür treibt Lauterbachs Entbudgetierung im hausärztlichen Bereich seltsame Blüten. Was sich zunächst positiv anhört, entpuppt sich als nicht zu unterschätzende Gefahr für niedergelassene Diabetologen. Neben der Entbudgetierung soll es eine Veränderung bei den Vorhaltepauschalen und jährlichen Vorsorgepauschalen (pro Patient und pro Quartal) für chronisch kranke Patienten geben. Diese Pauschalen würden, so der Entwurf, nur noch für eine Arztebene gezahlt werden: die Hausärzte. Die nachgelagerten Diabetologen drohen leer auszugehen. Bei Praxen mit 1.000 Scheinen fehlen schnell mal 200.000 Euro Umsatz im Jahr, für manche wäre das existenzbedrohend.

Wer hat angesichts solcher Gefahren noch Zeit, sich um Digitalisierungsfragen zu kümmern? Diese Zeit müsste ebenso aufgewendet werden, um mit den Kassen zu verhandeln, wie ärztliche Leistungen im Rahmen von digitalen Konzepten honoriert werden können. Ohne diese Honorierung kann es keine Finanzierung von Digitalisierung geben! Die Diabetologen-Verbände sind hauptsächlich auf die ehrenamtliche Arbeit ihrer Funktionsträger angewiesen. Eine professionelle berufspolitische Vertretung im Sinne von 24/7, die sich nur ein großer Hausärzteverband leisten kann, existiert nicht. Der Kampf gegen die potenziell schädlichen Gesetze und Verordnungen ruht deshalb nur auf den Schultern weniger. Von zu wenigen?

Die Digitalisierung muss vorangetrieben werden

Dennoch wollen wir wieder die Vision bemühen. Jeder dritte Arzt, also auch Diabetologe, ist heute älter als 55 Jahre. Auch die Diabetesberatung hat Nachwuchssorgen. Nur eine funktionierende Digitalisierung kann sie entlasten! Was für die Klinik gilt, trifft auch auf die diabetologische Praxis zu. Wenn wir in den nächsten Jahren keine Barfußversorgung wollen, müssen wir die Digitalisierung vorantreiben, mit einer weiterhin angemessen vergüteten Versorgung, einer Honorierung ärztlicher Leistungen bei digitalen Konzepten, mit Krankenkassenverträgen, die digital und zukunftsorientiert sind, und einer flächendeckenden Erforschung und schrittweisen Einführung von künstlicher Intelligenz. Hier müssten wir sogar Vorreiter in Europa werden.

Falls der Datenschutz nicht alles abwürgt, hätten wir auch in Deutschland hervorragende Bedingungen mit ambitionierten Start-ups, aber auch fertigen Konzepten in Konzern-Pipelines, die nur auf den Startschuss warten. Darauf dürfen engagierte Ärzte und mündige moderne Patienten nicht umsonst hoffen. Der gesellschaftliche und politische Schaden wäre nicht mehr gutzumachen.