Kulturspezifische Ausdrücke „Mein Kopf ist erkältet“

Gesundheitspolitik Autor: Jan Helfrich

Die Kulturen der Welt sind zu vielfältig, um eine umfassende Liste aller Organchiffren erstellen zu können. Die Kulturen der Welt sind zu vielfältig, um eine umfassende Liste aller Organchiffren erstellen zu können. © Kundra – stock.adobe.com

Kulturell geprägte Organchiffren haben schon so manche Ärztin und manchen Arzt vor eine Herausforderung gestellt. Ein Experte sensibilisiert für das Thema.

Ein Psychiater habe ihm mal von einer Patientin erzählt, die diesem gesagt hatte, ihre Gallenblase sei geplatzt. Als sie untersucht wurde, sei aber keine Verletzung der Gallenblase festgestellt worden, erzählt Dr. phil. Ali Kemal Gün. Der psychologische Psychotherapeut und Integrationsbeauftragte an der LVR-Klinik Köln spricht dieses Mal in der Kreisintegrationsstelle im Landratsamt Karlsruhe über Organchiffren. 

„Der Arzt verstand erst nachdem er meinen Vortrag über Organchiffren gehört hatte, was eigentlich gemeint gewesen war. Es ging nicht um eine verletzte Gallenblase, sondern um ein großes Erschrecken oder ein großes Trauma, das die Frau erlebt hatte“, berichtet der Integrationsbeauftragte.

Wenn Menschen aus anderen Kulturen ihre Befindlichkeiten in Organchiffren ausdrücken und diese dann wortwörtlich übersetzt werden, kann das zu Problemen führen. Ärztinnen und Ärzte würden zwar größtenteils zurecht darauf bestehen, dass die Übersetzerin oder der Übersetzer wortwörtlich übersetzt, so Dr. Gün. Es sei jedoch manchmal unabdinglich, den gemeinten Sinn auch zu übersetzen. 

„Gerade bei den wortwörtlichen Übersetzungen entstehen teils verheerende Missverständnisse.“ Dr. Gün führt ein Beispiel an: „Ein türkeistämmiger Patient sagt, dass sein Kopf erkältet ist. Während andere nun vermuten, dass der Patient eine Erkältung oder Kopfschmerzen hat, meint dieser Ausdruck jedoch, dass sich die Person depressiv oder psychisch instabil fühlt.“

„Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen“

Im Kontext seiner Doktorarbeit stieß Dr. Gün auf das Thema. Dass es Ausdrücke dieser Art gibt, war ihm seit seiner frühen Kindheit in der Türkei bekannt. Aber jede Kultur habe ihre eigene Art, um Schmerzen, Krankheiten, Trauer und ähnliches auszudrücken. Als prominentes deutsches Beispiel führt Dr. Gün an: „Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen.“ Diesen Ausdruck habe er aus seiner Kultur nicht gekannt, also musste er sich über dessen Bedeutung erst einmal informieren. 

Organbezogene Beschwerdeäußerungen seien oft Hinweise auf seelisches Leid. „In den Organchiffren werden vielfach geschwollene oder verschobene Organe als Mittel genutzt, um einen seelischen Zustand zum Ausdruck zu bringen.“ Solche kulturspezifischen Ausdrücke würden seit jeher als Metapher verwendet, um zu vermitteln, dass das Gleichgewicht im Körper verrutscht ist, so Dr. Gün. Diese Vorstellungen finde man noch heute häufig auf der Welt. Auch neuankommende Flüchtlinge aus orientalischen und afrikanischen Gebieten würden häufig organbezogene Redewendungen benutzen.

Eine weitere Schwierigkeit entsteht, wenn kulturbedingt möglichst gar nicht über Krankheiten gesprochen wird. Türkeistämmige Menschen zum Beispiel würden ihre Krankheiten oft nicht ausdrücken. „Ein deutscher Arzt erwartet, dass man ihm eine ausführliche Beschwerdebeschreibung gibt. Die türkeistämmige Person könnte wiederum der Auffassung sein, dass es unhöflich ist, dem Arzt zu sagen, was man hat“, erklärt der Psychotherapeut. 

Neugierig bleiben, um Chiffren zu deuten 

„Die Person könnte auch denken: Wenn ich wüsste, was ich habe, wieso gehe ich zu dir?“ Häufig nenne man in der Türkei dementsprechend keine konkreten Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Fieber, sondern sage einfach nur, dass man krank sei. 

Dr. Gün appelliert deshalb an die deutschen Behandlerinnen und Behandler, grundsätzlich neugierig zu sein und Gesagtes stets zu hinterfragen. „Tun Sie das nicht, verfügen Sie nicht über das kulturelle Verständnis der Zusammenhänge. Und das kann zu einer Fehlbehandlung führen.“ Interkulturelle Kompetenz sei erforderlich, um mit Deutungsmustern umgehen zu können. Das gelte nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, sondern auch für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. 

Eine komplette Liste von Organchiffren zusammenzustellen, sei unmöglich. Dafür gebe es einfach zu viele. Dr. Gün hat zwar einige Formulierungen zusammengetragen, aber es geht ihm nicht darum, Behandelnde für eine bestimmte Kultur zu sensibilisieren, sondern auf die Grundhaltung aufmerksam zu machen. Es sei unmöglich, alle ethnischen, religiösen und familiären Hintergründe seiner Patientinnen und Patienten zu kennen. 

„Wir sollten immer nachfragen, was die Patientinnen und Patienten meinen und uns das Krankheitsbild beschreiben lassen. Jede Chiffre ist in einer religiösen, ethnischen oder kulturellen Ideologie begründet. Die Expertinnen und Experten sitzen uns gegenüber – denn sie sind die Kenner ihrer Kultur und ihrer Körper.“ 

Quelle: Medical-Tribune-Bericht