Sexuelle Belästigung „Oben ohne – muss das sein, Herr Doktor?“
Ein Berliner Augenarzt legt seiner Patientin bei der Augenkontrolle die Hände auf die Oberschenkel. Ein HIV-Spezialist, ebenfalls aus Berlin, versucht während einer Prostatauntersuchung seinem Patienten einen Zungenkuss zu geben. Ein Bielefelder Anästhesist vergewaltigt mehrere Patientinnen im Krankenhaus, die bei der Tat unter Medikamenteneinfluss stehen. Solche Beispiele sexueller Übergriffe beim Arzt ließen sich lange fortsetzen, doch nur selten kommt es zur Anzeige.
#frauenbeimarzt – Auf Twitter rief eine österreichische Influencerin im Januar Patientinnen dazu auf, sexualisierte oder erniedrigende Erfahrungen beim Arztbesuch zu schildern. Über 1.000 Kommentare innerhalb weniger Tage kamen zusammen – mit erschütternden Berichten und oft nach jahrelangem Schweigen der Betroffenen.
Gender-Pain-Gap: Krebspatientin nur „hysterisch“?
Quelle: derstandard.de
Sexuelle Grenzverletzungen
- unangemessener oder zu langer Berührung
- versteckter oder offener Sexualisierung des Kontakts
- Benutzung einer sexuell anzüglichen Sprache, ggf. Erzählen von Sex-Witzen
- abwertenden Äußerungen über die Attraktivität des Patienten
- Berührung am Körper außerhalb medizinischer Untersuchungen
- sexuellen Kontakten mit dem Vorwand einer therapeutischen Handlung
Quelle: Grenzüberschreitungen, Grenzverletzungen, Abgrenzungen – Informationen zu sexueller Belästigung und Diskriminierung im Kontext medizinischer und pflegerischer Behandlung, hrsg. von der Charité
Neues G-BA-Konzept gegen Missbrauch und Gewalt
Einen ersten wichtigen Schritt gegen sexuelle Übergriffe sieht sie in dem neuen Schutzkonzept des G-BA vom Juli 2020. Das Ziel: Missbrauch und Gewalt vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen oder hilfsbedürftigen Personen in medizinischen Einrichtungen zu verhindern. Die #patientstoo-Studie kam zu dem Ergebnis, dass die meisten sexuellen Übergriffe im ambulanten Bereich stattfanden. Wie lässt sich das erklären? „Das wissen wir nicht“, sagt Dr. Clemens. Eine Vermutung sei, dass es im ambulanten Bereich weniger Kontrolle durch Kollegen gebe. „Während zum Beispiel in einer Klinik häufig mehrere Patientinnen oder Patienten auf einem Zimmer liegen und medizinisches Personal im Team zusammenarbeitet, kommt es im ambulanten Bereich eher vor, dass ein Arzt oder eine Ärztin mit einem Patienten oder einer Patientin allein in einem Zimmer ist“, erklärt die Ärztin. Generell fordert sie bei sexuellem Fehlverhalten „eine Kultur der Achtsamkeit, in der Fehlverhalten sofort angesprochen wird und es klare Ansprechpersonen und transparente Wege für Fälle von sexualisierter Belästigung und Gewalt gibt“.§ 174c StGB
Ärztinnen: Alles schon zigmal passiert!
Für Ärztinnen gehörten Grenzverletzungen wie sexistische Kommentare von Patienten leider zum Berufsalltag, so Dr. Kurmeyer. Diese Erfahrungen würden ihr aber meist nur am Rande berichtet, nicht als Fall präsentiert. In der Regel würden die Kolleginnen entweder darüber hinwegsehen, da es schon „zum x-ten Mal“ passiert, oder eben direkt reagieren, etwa mit einer an den Patienten gerichteten Ansage: „Ich bin hier die leitende Anästhesistin, sie bekommen von mir eine Narkose“ – plötzlich werde die Ärztin als Respektsperson wahrgenommen. Viel häufiger erlebten Ärztinnen sexuelle Grenzüberschreitungen allerdings im Umgang mit ihren Kollegen. Hier gehe es aber meist „nicht um Sex, sondern um Macht“, so die Gleichstellungsbeauftragte. Die Charité setzt hier auf Prävention im Arbeitsalltag, etwa durch Kurzinterventionen in den Teams. Beschwerden können anonymisiert abgegeben und danach diskutiert werden – etwa, dass sexistische Kommentare im Team unerwünscht sind und sich Sprüche wie „Leg‘ mal deine Pfötchen her, Mäuschen!“ oder „Bei deiner Figur kann man sich ja auf nichts konzentrieren!“, ein für allemal erledigt haben. Für einen Arzt, der dem Vorwurf der sexuellen Grenzüberschreitung ausgesetzt ist, hält es Dr. Jenny Lederer, Rechtsanwältin aus Essen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des Deutschen Anwalt Vereins, für sinnvoll, sich frühzeitig einen Rechtsbeistand zu nehmen. Gerade für das Strafverfahren sei anwaltlicher Beistand wichtig, es könnten auch arbeitsrechtliche oder berufsrechtliche Konsequenzen drohen. Sie warnt, den Vorwurf der sexuellen Grenzverletzung immer „sehr ernst“ zu nehmen, da auch Untersuchungshaft in Betracht kommen könne. Zudem rät sie, bei einer Beschuldigtenvernehmung keine Erklärungen ohne Rechtsbeistand abzugeben bzw. sich zunächst nicht zu äußern. Vor allem sollte sich der Arzt nicht aus einem Gefühl vermeintlicher „Unangreifbarkeit“ heraus oder aus Statusgründen zu spontanen Äußerungen hinreißen lassen, so die Anwältin.Quelle: Epidemiology and Psychiatric Sciences, 2021; DOI: 10.1017/S2045796021000378
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