Sehr viel mehr als ein kleiner Piks
„Haben Sie schon von dem jungen Vater in unserem Ort gehört, dessen Leukämie wiedergekommen ist?“ Bekümmert erzählt mir meine Patientin die Geschichte, die mir allerdings auch schon zu Ohren gekommen war. Man hatte eine große Typisierungsaktion durchgeführt, um einen Stammzellenspender zu finden, und Hunderte hatten sich testen und registrieren lassen; so auch mein Gegenüber. „Es ist ja wirklich kein Akt, nur eine kleine Blutentnahme“, schwärmt sie, „und wie schön, wenn man damit ein Leben retten kann!“ Was die Typisierung angeht, kann ich ihr nur zustimmen, und natürlich wünsche ich dem Patienten, dass man einen passenden Spender findet.
„Es ist aber schon mehr als ein kleiner Piks“, fühle ich mich zur Aufklärung verpflichtet: „Die Spende selber ist durchaus etwas belastend!“ Schon hat die Schwärmerei ein Ende: „Wieso? Da nimmt man doch auch nur eine Blutprobe?“ Da hatten wir es wieder: Die Werbung der DKMS für die Stammzellspende mit dem Spruch „Nur ein kleiner Piks rettet Leben“ hatte ein neues unwissendes Opfer gefunden.
Ich erkläre, dass vor der Knochenmarkspende die Stammzellenbildung durch Medikamente stimuliert wird, was zu Schlappheit, schmerzhaften Lymphknotenschwellungen und grippeähnlichen Symptomen führt. Die Patientin ist fassungslos: „Das wusste ich nicht. Warum sagt einem das keiner?“
Die Antwort lautet sicher, dass es dann nur noch einen Bruchteil an potenziellen Spendern geben würde. Aber hat einer schon mal an die Leukämiekranken gedacht, für die man einen oder gar mehrere passende Spender in der Kartei findet, die dann aber nach erster wahrheitsgerechter Aufklärung absagen? Genau das war nämlich zweien meiner Leukämiepatienten schon passiert. Dann schlägt freudige Hoffnung in tiefste Verzweiflung um.
„Was mache ich denn jetzt?“ Die Frage meiner Patientin holt mich zurück in die Gegenwart. Ich schlage ihr vor, sich darüber zu belesen, wie eine Stammzellspende wirklich vor sich geht. „Ich würde mich freuen, wenn Sie trotzdem weiterhin als Spenderin zur Verfügung ständen“, motiviere ich sie. „Es ist zwar kein Spaziergang, aber letztlich doch ein erträglicher Preis für die Rettung eines Lebens.“ Sie zögert: „Darüber muss ich noch nachdenken, ich komme mir erst mal ziemlich verarscht vor!“ Wer kann ihr das verdenken?
Nachdem wir ihr eigentliches Problem besprochen haben, überlege ich wieder einmal, an die DKMS zu schreiben, verwerfe den Plan aber rasch. Ich fürchte, es wird eh nichts nützen, obgleich es so wichtig wäre, potenzielle Spender angemessen aufzuklären. Dann hätten sie Zeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen, bis sie irgendwann mal angerufen werden. Die Gefahr, dass sie im letzten Moment einen Rückzieher machen, weil sie sich übervorteilt fühlen, könnte reduziert werden.
Da ist die Organspende doch eine andere Nummer, denn wenn ich tot bin, ist es mir egal, was mit meinen Organen passiert. Dennoch habe ich die Debatte darüber mit Spannung verfolgt. Eine „Spende“ ist ein freiwilliges Geben. Wie kommt ein Gesundheitsminister darauf, dass unsere Organe dem Staat so lange gehören, bis wir widersprechen? Ich bin sehr froh, dass er mit diesem Vorschlag nicht durchgekommen ist, zumal viele Menschen gar nicht die Informationen oder den Intellekt zum Widerspruch gehabt hätten.
Aber natürlich habe ich einen Organspendeausweis, denn freiwillig gebe ich gern. Das ist ein bisschen wie mit den Steuern: Wenn unsere Politiker meinen, die würden „eh ihnen gehören“ und ein Verzicht darauf wäre – wie beim Soli – ein „Geschenk an die Bürger“, kriege ich Pickel! Hiergegen kann ich mich nicht wehren, aber meine Organe kann ich weiter freiwillig hergeben. Und über die Stammzellspende kläre ich unentwegt weiter auf. Von wegen „Nur ein kleiner Piks!“