Stadtrat-Revolte gegen die Bedarfsplanung
Formal zählt Berlin seit 2003 als ein Planungsbezirk, wenn es um die Besetzung von Vertragsarztstellen geht. Da sich das aber nicht als praktikabel hinsichtlich einer ausgewogenen Versorgung der Patienten erwiesen hat, schlossen 2013 KV und Krankenkassenverbände in der Hauptstadt einen Kompromiss (Letter of Intent), um im Zulassungsausschuss auf den Bedarf der 12 Bezirke besser reagieren zu können.
Die Bevölkerung spürt täglich, dass Arztpraxen fehlen
Den beiden Berliner Bezirken Lichtenberg (275.000 Einwohner) und Neukölln (328.600) bringt das allerdings wenig, wie das IGES Institut in einer Studie zur ambulanten ärztliche Versorgung in den Bezirken belegt. Betrachtet wurden dabei die Fachgruppen Hausärzte, Augenärzte, Frauenärzte, Kinderärzte, Orthopäden und Psychotherapeuten wegen einer nach Aussage der Gesundheitsstadträte Katrin Framke (Lichtenberg) und Falko Liecke (Neukölln) „defizitären Ausstattung mit vertragsärztlichen Praxen, wie sie jeden Tag von der Bevölkerung wahrgenommen wird“.
Die beiden Bezirke liegen bei der Arztdichte je 100.000 Einwohner in der Regel unterhalb des Versorgungsniveaus des Planungsbereiches Berlin. Für Neukölln ergibt sich sogar eine „stark unterdurchschnittliche Ausstattung mit ärztlichen Kapazitäten“ in allen betrachteten Fachgruppen, heißt es. Allerdings wird dies durch eine überdurchschnittlich hohe Fallzahl je Arzt sowie durch Ärzte in anderen Bezirken zum Teil kompensiert. Ein ähnliches Bild zeigt sich für Lichtenberg.
Insgesamt gehen die Autoren bei Berücksichtigung von Sozialstruktur, Altersentwicklung, Morbidität der Bürger, einer geringen Ärztedichte aktuell und einem zukünftig steigenden Bedarf an medizinischer Versorgung von einem beträchtlichen ärztlichen Nachbesetzungsbedarf in beiden Bezirken aus. Für Schwerpunktregionen innerhalb der Bezirke verzeichnen sie sogar einen besonderen Handlungsbedarf. Die Ursachen sind hier z.B. ein deutlicher Anstieg der Anzahl Kinder und Jugendlicher sowie punktuell eine stark ausgeprägte Alterung.
Die Autoren halten Abweichungen von der Bedarfsplanungsrichtlinie wegen regionaler Besonderheiten für sinnvoll. Bisher werde von dieser Steuerungsmöglichkeit in Berlin (ebenso wie in anderen Großstädten z.B. Bremen, Hamburg, Köln) kein Gebrauch gemacht. Auch seien die Bezirke im Gemeinsamen Landesgremium nach § 90a SGB V (welches Empfehlungen zu sektorenübergreifenden Fragen der Versorgung in Berlin aussprechen kann) nicht regelmäßig vertreten.
Nach der Präsentation der Studienergebnisse forderten beide Stadträte grundlegende Änderungen in der hauptstädtischen Bedarfsplanung: Top-Forderung ist eine Aufteilung des Planungsraumes Gesamtberlin in bezirkliche Planungsregionen und die Möglichkeit des Abschlusses von Zielvereinbarungen zur ärztlichen Versorgung zwischen Bezirken und Kassenärztlicher Vereinigung (KV). Die Politiker drängen zudem auf eine Mitsprache in der Bedarfsplanung und eine bezirkliche Beteiligung an Entscheidungsprozessen des Zulassungsausschusses. „Die Bezirke wissen am besten, wo die Ärzte fehlen“, begründet das Katrin Framke.
Beide Stadträte tragen sich inzwischen mit dem Gedanken, in ihren Bezirken kommunale MVZ mit angestellten Ärzten zu initiieren. Stadtrat Liecke strebt zuerst eine Einrichtung mit zwei Kinderärzten an, danach könnten weitere Besetzungen erfolgen. Unterstützen lässt sich Liecke bei der Konzepterstellung von einem Beratungsunternehmen für öffentliche Auftraggeber.
Bezirk kann Ankauf der Sitze nicht alleine stemmen
Er sucht auch bereits das Gespräch mit der Senatsverwaltung und der KV. Die KV muss dem Ankauf von Arztsitzen zustimmen. Zu klären ist auch, wer das Geld für den Aufkauf bereitstellt, denn der Bezirk kann das allein nicht stemmen. Beim Senat dürften die Bezirksvertreter mit ihren Forderungen offene Türen einrennen. In der Rot-Rot-Grünen-Koalitionsvereinbarung sind entsprechende Änderungen bereits verankert. So soll das Gemeinsame Landesgremium um gleichberechtigte Vertreter von Menschen mit Behinderung, Pflege, des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, aber auch der Bezirke erweitert werden und in der Regel öffentlich tagen. Auch will der Senat die Gründung von kommunalen Eigeneinrichtungen prüfen.
Die KV verweist darauf, dass Kommunen mit Zustimmung der KV eigene Gesundheitseinrichtungen betreiben dürfen, wenn die Versorgung auf andere Weise nicht sichergestellt werden kann. Ein Antrag liege aber noch nicht vor.