Integrative Medizin Warum eine Hausärztin sie als pseudomedizinischen Unsinn sieht

Gesundheitspolitik Autor: Anouschka Wasner

Der Trend zur Beliebigkeit ist besorgniserregend. Der Trend zur Beliebigkeit ist besorgniserregend. © Lara Nachtigall ‒ stock.adobe.com

Im deutschsprachigen Raum etabliert sich zunehmend das Konzept einer „Integrativen Medizin“. Doch unter dem plausibel erscheinenden Begriff werde pseudomedizinischer Unsinn in die klinische Routine geschmuggelt, sagen Expertinnen und Experten. Eine Allgemeinmedizinerin erklärt, welche Gefahren sie dabei sieht.

Für Dr. Claudia Nowack, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Dipl.-Psychologin, ist klar: „Wenn medizinische Maßnahmen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für einen objektivierbaren Nutzen erkennen lassen, sehe ich keine Rechtfertigung dafür, Zeit oder psychische und materielle Ressourcen der Patienten damit zu vergeuden.“ Medizin müsse sich selbstverständlich am Nutzen für den Patienten ausrichten – und nicht der guruhaften Selbstinszenierung von Ärzten und Therapeuten dienen.  

Es sei aktuell ein enormer Zuwachs an gesichertem medizinischem und medizinrelevantem Wissen zu beobachten. Gleichzeitig könne man aber in der Medizin einen besorgniserregenden Trend zur Beliebigkeit und der selbstgewissen Einbeziehung von ungesicherten, eher subjektiv wertgeschätzten Verfahren beobachten. Und während in anderen Bereichen Qualitätssicherung anhand objektiver Kriterien selbstverständlich sei, „gibt es in der Medizin große weiße Flecken auf der Qualitätslandkarte.“

Die Hausärztin aus Münster ist eine der Autorinnen und Autoren eines kritischen Memorandums zur „Integrativen Medizin“, wie seit den 1990er-Jahren die Zusammenführung von Alternativmedizin und konventioneller Heilkunde zunehmend bezeichnet wird. „Sie untergräbt die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin und führt zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung“, erklärt Prof. Dr. Edzard Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin, die medizinische Problematik. „Integrierte Medizin“ (IM) bewirke damit genau das Gegenteil von dem, was in ihrem Namen propagiert werde.

Verfasst wurde das Memorandum zur IM vom Münsteraner Kreis, einem informellen Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, die sich kritisch mit komplementärer und alternativer Medizin auseinandersetzen. Dieser Kreis besteht seit 2016 und geht auf eine Initiative von Prof. Dr. Bettina ­Schöne-Seifert, Medizinethikerin an der Universität Münster, zurück. 

Die Autorinnen und Autoren fordern Einrichtungen und Entscheidungsträger in der Medizin sowie Journalisten auf, der IM mit Skepsis und kritisch-aufklärerischer Haltung zu begegnen. Man möchte der Verbreitung der IM nicht tatenlos zusehen. Es gehe darum, IM-Ini­tiativen sorgfältiger und mit mehr Mut zur Demarkation zu prüfen. Der offenkundig einhergehenden Gefahr des Einschleusens unbelegter oder widerlegter alternativer Verfahren müsse man konsequent entgegenwirken. 

Evidenzbasiert – oder nur von Evidenz geleitet?

Eine allgemeine Definition der IM gibt es allerdings nicht. Gängige Beschreibungen sprechen von der Kombination von konventionellen und komplementären Verfahren, von Ganzheitlichkeit und einem hohen Stellenwert des Erfahrungswissens. Bei genauerem Hinsehen zeigten sich Ungereimtheiten, so das Memorandum. Es werde etwa von „ärztlicher Medizin“ gesprochen und zugleich würden alle relevanten Berufe einbezogen. Es werde die wissenschaftliche Evidenz hervorgehoben, aber gleichzeitig die Homöopathie und weitere unbelegte Verfahren inkludiert und dabei unterstrichen, dass sie durch Evidenz lediglich „geleitet“ sei. Und es werde behauptet, die IM sei „ergänzend zur wissenschaftlich begründeten Medizin“ zu verstehen und damit impliziert, dass IM selbst nicht wissenschaftlich begründet ist. 

Viele Ansprüche der IM seien außerdem elementare Bestandteile jeder guten Medizin und können somit nicht zu ihren charakterisierenden Eigenschaften gezählt werden. Die IM habe also kein Potenzial zur Verbesserung der Medizin, sie stifte vielmehr Verwirrung und bringe erhebliche Gefahren mit sich. 

Homöopathie: eine „esoterische Glaubenslehre“

Eines der Verfahren in der IM mit einer beachtlichen Einsatzbreite ist die Homöopathie. Seine Kritik daran hatte der Münsteraner Kreis schon 2018 in einem Memorandum zusammengefasst. Heute wie damals bezeichnet Dr. Nowack die Homöopathie als „eine mit dem heutigen Kenntnisstand unvereinbare esoterische Glaubenslehre“. Die irrationalen Sonderrechte bei der arzneimittelrechtlichen Zulassung und die außerordentlichen Honorare habe das Verfahren einer starken Lobby zu verdanken, die es aufwendig und unlauter bewerbe.

In der Argumentation zugunsten der Homöopathie oder anderer nicht evidenzbasierter bzw. pseudomedizinischer Methoden würden besonders die Defizite der konventionellen Medizin angeprangert – allerdings ohne Lösungen von den zuständigen Organisationen des Gesundheitswesens einzufordern, kritisiert Dr. Nowack. Die Probleme, an denen die konventionelle Medizin unter ihren aktuellen Bedingungen zweifellos leidet, überantworte man damit aber einem paramedizinischen Feld, wo sie aus der Agenda der Gestalter einer wissenschaftsorientierten Medizin verschwinden.  

Bei einem Blick auf EBM und GOÄ würde den meisten Haus­- und auch manchen Fachärzten schnell klar, dass mit der konventionellen Behandlung von Kassenpatienten nur schwer kostendeckende Honorare zu erzielen sind – auf jeden Fall nicht, wenn man einberechnet, dass für eine gute Medizin zeitintensive Arzt-Patient-Interaktion erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen „Weiterbildungen“ in Alternativmethoden wie Homöopathie, Akupunktur etc. als lohnende Investition – als ein Versuch, sich „das Beste aus beiden Welten“ für die Abrechnung zu erschließen, beschreibt es Dr. Nowack. 

„Und wer mithilfe alternativmedizinischer Zusatzhonorare seine persönliche finanzielle Wohlfühlnische findet, sieht vielleicht auch gar keine Veranlassung mehr für ein kollegial-solidarisches Eintreten für eine angemessene Bezahlung guter Medizin.“ 

Stattdessen propagiere man also eine Kombination aus konventioneller und komplementär-alternativer Medizin, die echten oder vermeintlichen Mängeln der konventionellen Medizin abhelfen soll. Und neben potenziell wirksamen oder nützlichen Verfahren, die mangels Honoraren oder Forschungs­interesse zu kurz kommen, würden damit auch Verfahren ohne jede spezifische Wirkung und mit teils erheblichem Schadenspotenzial in die Medizin eingeführt, kritisiert Dr. Nowack. Patienten mit seltenen oder schwer klassifizierbaren Krankheiten würden oft ohne angemessene Diagnostik mit einer nicht wirksamen Therapie abgespeist, denen mit nicht heilbaren Krankheiten falsche Hoffnungen gemacht und bei banalen Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen werde die Selbstregulation durch irrationale oder unnötige Maßnahmen außer Kraft gesetzt. 

„Der Kritik an der Unwirksamkeit wird gerne mit dem Argument begegnet, in ärztlicher Hand sei Homöopathie nützlich. Sie ergänze die reguläre Medizin ja nur. Teils könne sie diese sogar nebenwirkungsfrei ersetzen“, erklärt Dr. Nowack. Statt einem Nutzen für Patienten beinhalte die Homöopathie aber ein hohes Schadenspotential vor allem durch Unterlassung notwendiger Maßnahmen und die Verminderung der Selbstwirksamkeit ihrer Nutzer.

Wichtig sei es deswegen jetzt, die ärztlichen Zusatzbezeichnungen für nicht evidenzbasierte Verfahren seitens aller Ärztekammern abzuschaffen – ebenso wie alle Zusatzhonorare für Verfahren ohne wissenschaftlichen Nutzennachweis. Außerdem müsse der Sonderstatus der „besonderen Therapierichtungen“ im Arzneimittelrecht beendet werden, der u.a. auch die Homöopathie seit 1978 von der Notwendigkeit objektiver wissenschaftlicher Wirkungsnachweise freistellt.

Stattdessen müsse man angemessene Honorare für Anamnese, Recherche und Patientengespräche im Rahmen der wissenschaftsorientierten Medizin fordern. Charakteristika, die von Patienten gewünscht und gebraucht würden, wie eine gute Arzt-Patienten-Beziehung, Ganzheitlichkeit, Erfahrungswissen, wissenschaftliche Evidenz und Hoffnung auf optimalen Therapieerfolg bei minimalen Nebenwirkungen, seien Bestandteile jeder guten Medizin. Sie würden aber fälschlicherweise oft speziell der IM zugeschrieben – „und implizit werden sie damit jeder anderen Medizin abgesprochen“, so Dr. Nowack. 

Im Studium zu subjektiver Medizin fehlgeleitet

Bedenklich findet es die Hausärztin auch, dass es die Proponenten der IM – unterstützt durch politische Strömungen und finanziert durch Drittmittel – geschafft haben, in medizinischen Fachbereichen der Hochschulen präsent zu sein. „Damit wird Medizin als Wissenschaft ad absurdum geführt, werden schon Studierende auf eine subjektive Medizin eingeschworen, die Wissenschaftlichkeit und fachbezogene Kritikfähigkeit nicht wertzuschätzen weiß!“ Und wenn weder das Studium noch die Facharztausbildung zu einer ausreichenden wissenschaftlichen Kritikfähigkeit geführt haben, orientiere man sich eben auch gerne an der Honorarordnung: Wie könnte das, was so hoch bezahlt wird, nicht ausreichend geprüft oder gar schlecht sein?

Medical-Tribune-Bericht