
Podcast Wie praxistauglich sind Leitlinien im Alltag – und wie unabhängig sind sie von der Pharmaindustrie?

„Allein für die aktuelle Leitlinie zum kardiogenen Schock hatten wir zehn dreistündige Sitzungen – und das war nur, um das Grundgerüst zu erstellen“, erklärt Prof. Dr. Stefan Frantz in der neuen Folge des Podcasts O-Ton Innere Medizin. Er ist Direktor der Medizinischen Klinik I des Uniklinikums Würzburg und Vorsitzender der Kommission „Leitlinien“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.
Die Empfehlungen innerhalb seiner eigenen Disziplin, der Kardiologie, empfindet er als praxistauglich und etabliert. Dennoch könne es angesichts der Länge der Papiere von bis zu 200 Seiten zeitlich schwerfallen, einen Überblick zu allen relevanten Themen zu behalten. Das könne man von niemandem erwarten.
Eine Hilfe zeichnet sich jedoch ab: Der Experte ist sicher, dass künftig Künstliche Intelligenz dabei helfen wird, die Empfehlungen automatisiert in den Behandlungsalltag einzubringen. Auch seine Klinik erprobt derzeit ein System, das Diagnose- und Therapievorschläge macht. Das Smartphone bleibt dabei beim Gespräch mit Patientinnen und Patienten offen auf dem Tisch liegen. Nach Anamnese und Untersuchung erstellt das System einen Eintrag für den Arztbrief, außerdem macht es Vorschläge zu Diagnose, Differenzialdiagnostik und Therapie. Eine wichtige Voraussetzung solcher Anwendungen sei aber, dass sie lokal an Kliniken laufen, erläutert der Kardiologe.
Autorinnen und Autoren haben oft Industriekontakt
Trotz der Praxisnähe vieler Leitlinien sei die Übertragung auf den individuellen Fall nicht immer ohne Weiteres möglich – an diesen Stellen sei die ärztliche Kunst gefragt, betont Prof. Frantz. Die Papiere seien nur Leitplanken, von denen man in begründeten Fällen abweichen könne.
Ein Reizthema bleibt die Frage nach der Unabhängigkeit von Leitlinienautorinnen und -autoren von der Pharmaindustrie. Die Organisation Leitlinienwatch analysierte 129 offizielle Leitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Nur rund ein Drittel der Papiere sieht sie im grünen Bereich, 48 % im gelben und 19 % im roten.
Prof. Frantz hält es für nicht verwunderlich, dass an Leitlinien Personen mitarbeiten, die auch Kontakt zur Industrie haben. Schließlich seien große Arzneimittelstudien so teuer, dass sie meist von der Pharmaindustrie durchgeführt würden, erklärt er. An der Studie wirkten dann die Expertinnen und Experten mit, die sich wissenschaftlich am besten auf dem jeweiligen Gebiet auskennen.
Dass deren Wissen einfließe, sei vom Prinzip her auch wünschenswert, so Prof. Frantz. Nur führe das eben dazu, dass diese Expertinnen und Experten, wenn sie an Leitlinien mitarbeiten sollen, bereits Kontakt zur Industrie hatten und womöglich auch von einem Produkt profitiert haben. „Man müsste Leute finden, die sich mit den Pharmaka exzellent auskennen, aber nie mit den Unternehmen zusammengearbeitet haben.“ Da dies schwierig sei, laute die Lösung Transparenz.
Vor dem Erstellen einer Leitlinie prüft ein Gremium die Interessenkonflikte der Beteiligten. Sind diese zu stark, dürfen die betreffenden Personen entweder nicht mitarbeiten oder aber bei einzelnen Inhalten nicht mitstimmen. Insgesamt müsse man die Situation differenziert betrachten, statt schwarz-weiß, fordert Prof. Frantz „Es gibt einen großen Graubereich, der in Ordnung ist und es gibt mit Sicherheit auch einen schwarzen Bereich, aber man darf den schwarzen Bereich nicht zu groß sehen.“
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
Mehr zum O-Ton Innere Medizin
O-Ton Innere Medizin ist der Podcast für Internist:innen. So vielfältig wie das Fach sind auch die Inhalte. Die Episoden erscheinen alle 14 Tage donnerstags auf den gängigen Podcast-Plattformen.