Zum Röntgen! – Braucht es dafür wirklich vier Leute?
Es gibt manche Sätze, da sagst du: „Verdammt, den kenn ich doch. Wer hat das gleich nochmal gesagt? Sokrates? Oder war’s doch eher Lothar Matthäus?“
Sokrates hat ja selbst nichts schriftlich überliefert, also kann man ihm vieles nachsagen. Wenn aber kein alter Grieche, dann bleibt uns immer noch Lothar Matthäus. Denn der gute Loddar hat in seinem Postfußballerleben auch schon alles, aber wirklich alles, gesagt. Warum sollte also der Satz, um den es mir geht, „Weniger ist mehr“ nicht von ihm sein?
Zugegeben, der Vergleich ist etwas weit hergeholt. Er fiel mir ein, als ich las, dass die National Physicians Alliance – das ist eine US-amerikanische Ärztevereinigung für Allgemeinmedizin, Innere Medizin und Kinderheilkunde – eine Liste erstellt hat mit dem Titel „Less is more“. Es handelt sich dabei um eine Übersicht über Tests und Therapien die unnötig und/oder schädlich sind. Es sind sinnvolle Ratschläge dabei – nichts wirklich Neues –, zum Beispiel über die Indikation zum Antibiotikaeinsatz, wann welche diagnostische Maßnahme zu ergreifen oder in welchen Fällen eine Krankenhauseinweisung indiziert ist.
»Empfehlungen ersetzen nicht die Einzellfallprüfung«
Wie alle diese wohlmeinenden Empfehlungen können sie uns freilich eines nicht ersparen: die Prüfung des Einzelfalles. Denn damit bei einem banalen Infekt auf Antibiotikagabe verzichtet werden kann – eine Tatsache, die mittlerweile auch medizinischen Laien geläufig ist –, muss der Infekt erst als banal diagnostiziert worden sein. Wobei das Wort „banal“ im Beisein des Patienten dem Heilungsprozess nicht förderlich sein dürfte.
Jede medizinische Maßnahme sollte also gut überlegt sein. Kürzlich wurde ich am frühen Morgen zu einem älteren Herrn gerufen. Er war bereits am Vorabend gestürzt und hatte hilflos stundenlang vor dem Bett gelegen. Eine Hüfte schmerzte, das Bein war etwas außenrotiert und als ich es vorsichtig zu bewegen suchte, gab er mir Signal, ich möge es bitte sein lassen, es tue weh. Less is more, dachte ich. Und da ich keine Röntgenaugen habe, schicke ich Patienten in solchen Fällen gerne in die Radiologie. Unabhängig davon, was mein klinischer Blick mir sagen möge. So auch diesmal. Der gerufene Rettungsdienst kam denn auch sehr prompt. Sie rückten mit der gesamten Kavallerie an – würde Steinbrück sagen –, vorneweg den Rettungswagen, etwas später kam die Notärztin hinzu.
In solchen Fällen trete ich respektvoll einen Schritt zurück. Obgleich jahrelang selbst gefahren, lasse ich gerne die engagierten Profis ihren Job tun, auch ein bisschen froh darüber, dass es nicht mehr meiner ist. Die Regie am Krankenbett übernahm auch gleich ein tüchtiger Rettungssanitäter. Der nutzte die Zeit sinnvoll, bis die Notärztin da war, für eine Untersuchung lege artis. Er knickte, zog, zerrte, klopfte, bog das Bein des alten Mannes, was mich an die Zirkusaufführungen im Chinesischen Staatszirkus mit seinen Schlangenmenschen denken ließ. Es war wirklich sehr beeindruckend! Und der Patient? Nein, tut nichts weh, nein, geht schon. Als der Sanitäter mit seiner Demonstration fertig war, sagte er sichtlich zufrieden: „Nix brocha, fahr’n mir zum Röntgen!“ Auch er hatte schließlich keine Röntgenaugen.
»Weniger ist manchmal mehr«
Offensichtlich hatte die Notärztin, die in der Zwischenzeit ebenfalls eingetroffen war, meinen hilflosen Blick bemerkt, denn sie sagte: „Der S. hat unglaublich viel Erfahrung!“, und untersuchte selbst den Patienten. Ihr Kommentar: „Ja, wir müssen röntgen.“ Es ist davon auszugehen, dass der Aufnahmearzt im Krankenhaus ebenfalls der Meinung war, der Patient müsse geröntgt werden. So kann man zusammenfassend immerhin sagen: Erfreulicherweise, obgleich vier Aussagen, wurde ein Konsens unter allen Beteiligten erzielt. Da soll noch einmal einer sagen, viele Köche verderben den Brei. Beim umfassend umsorgten Patienten war zum Glück wirklich nichts gebrochen.
Verallgemeinerungen helfen uns also im Alltag nicht immer weiter. Dennoch können sie manchmal recht nützlich sein. Letzte Woche suchte mich ein Bauarbeiter in der Praxis auf. Er hatte mit einem Mauervorsprung Bekanntschaft gemacht. Sehr schmerzhaft. Zum Beweis zierte ein Hämatom seine Brust. Das Hämatom war pfannkuchengroß, sehr großer Pfannkuchen, würde ich sagen. Und er jammerte augenrollend, zum Steine Erbarmen.
Seitdem weiß ich, dass ein Spanier definitiv mehr Wörter für Schmerz kennen muss, als ein Eskimo für Schnee. Als ich meine Hand schließlich behutsam in Richtung Thorax bewegte, um Kompressionsschmerz und einige andere fiese Nettigkeiten routinemäßig an ihm abzuarbeiten, konnte ich plötzlich blankes Entsetzen in seinen dunklen Augen lesen. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Ich kann zwar nicht spanisch, bin mir aber sicher, er wollte sagen: „Weniger ist manchmal mehr ...“ .
Übrigens: Ich tippe doch auf Lothar. Denn der Satz ist sprachlich nicht zu herausfordernd und man kann sich alles oder nichts dabei denken. Passt eher zu einem Fußballer als zu einem alten Griechen.