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ADHS-Debatte im Fokus
Daran, dass ADHS eine Erkrankung mit schwerwiegenden Folgen für die Entwicklung und Zukunftschancen betroffener Kinder darstellt, kann kein Zweifel bestehen, betont Professor Dr. Beate Herpertz-Dahlmann von der Universität Aachen. Das Risiko für schulisches, berufliches und familiäres Scheitern ist ebenso erhöht wie für psychische Erkrankungen, Substanzmissbrauch und Delinquenz.
Streiten lässt sich allerdings darüber, wie häufig die Störung vorkommt und ob es einen realen Anstieg der Prävalenz gibt. Bisher sind die Raten noch jedes Mal gestiegen, sobald eine neue Klassifikation verabschiedet wurde, merkte die Kinder- und Jugendpsychiaterin kritisch an. Von DSM-III über DSM-III-R zu DSM-IV gab es brandaktuellen US-Daten zufolge einen Anstieg von 3,9 auf 6,3 % und auch in Deutschland stieg die Diagnosehäufigkeit, wenn auch auf niedrigerem Niveau.
DSM-V wird nach Überzeugung von Prof. Herpertz-Dahlmann keine Ausnahme machen. Denn allein dass die kritische Grenze für das erste Auftreten von Symptomen nach hinten verschoben werden soll, wird die Definitionsbasis enorm verbreitern: Bisher konnte eine ADHS nur diagnostiziert werden, wenn sich die Symptome in den ersten sieben Lebensjahren manifestiert hatten – künftig sollen es zwölf Jahre sein.
Verordnungszahlen steigen in allen Industrienationen
„Die Theorie von der überdiagnostizierten ADHS ist populär – das heißt aber noch nicht, dass sie stimmt“, warnte dagegen Professor Dr. Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und führte als Argument die Ergebnisse der Nordbaden-Studie an, die sich auf Krankenkassendaten stützt.
Diese weisen eine „administrative Inzidenz“ der ADHS im Jahr 2007 von 4,1 % aus; das liegt aber noch unter den 5,4 %, die epidemiologische Studien ergeben haben. Überdiagnose sieht anders aus, so Prof. Banaschewski beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, auch wenn man über die diagnostischen Kriterien streiten könne.
Nun erhält beileibe nicht jedes Kind mit ADHS-Diagnose eine Therapie mit Psychostimulanzien. Doch die Verordnungszahlen sind in den letzten Jahren stark gestiegen, erklärte Prof. Herpertz-Dahlmann. Britischen Statistiken zufolge haben sie sich von 2000 bis 2008 bei Kindern verdoppelt und bei Erwachsenen vervierfacht, „und die Zahlen sehen in allen Industrienationen ähnlich aus“, so die Referentin.
Der deutsche Kinder- und Jugend-Gesundheits-Survey KIGGS des Robert Koch-Instituts zeigt, dass Jungen fünffach häufiger Methylphenidat & Co. erhalten als Mädchen, Großstadtkinder doppelt so oft wie Kinder aus ländlichen Regionen und Kinder deutscher Eltern dreimal häufiger als Kinder aus Migrantenfamilien. „Ob einem Kind ein ADHS-Medikament verordnet wird, hängt also nicht allein vom Schweregrad der Störung ab“, betonte Prof. Herpertz-Dahlmann.
Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass es zwar keine Hinweise auf gravierende Nebenwirkungen der Stimulanzien gebe, aber zu wenige Daten vorlägen, um Langzeiteffekte sicher beurteilen zu können. Die Psychiaterin führte als Beispiel den Puls- und Blutdruckanstieg um durchschnittlich 3 bis 5 Schläge/min bzw. 5 mmHg an: Aus epidemiologischen Studien weiß man, dass solche Anstiege langfristig mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko korrelieren – ob das bei ADHS-Kindern ebenso ist, lässt sich derzeit nicht sagen. Ob sie die Zunahme von Diagnosen und Therapien für gerechtfertigt hält oder nicht, ließ sie offen.
Unter allen Behandlungsverfahren weist die Pharmakotherapie mit Abstand die höchsten Effektstärken auf, sie bessert nachweislich Symptome, kognitive Leistungsfähigkeit und Lebensqualität, gab Prof. Banaschewski zu bedenken. „Psychostimulanzien erhöhen die Dopamin-Verfügbarkeit an der Synapse, wirken also nahe an der Ursache der Störung.“ Nicht medikamentöse Verfahren wie kognitives Training, Verhaltenstherapie oder Neurofeedback sind allenfalls gering bis moderat effektiv und bringen keinen Zusatznutzen, wenn man sie mit der Medikation kombiniert. Eliminationsdiäten scheinen zu wirken, aber nur bei kleinen Teilpopulationen.
Hirnstruktur und -funktion unter Therapie „normaler“
Natürlich dürfen mögliche Nebenwirkungen nicht vernachlässigt werden. Aber bisher kommen sowohl die Arzneimittelbehörden als auch das als besonders streng und unabhängig geltende britische National Institute of Clinical Excellence (NICE) zu dem Schluss, dass der Nutzen der Medikation bei ausgeprägter ADHS-Symptomatik die Risiken überwiegt.
Weder für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko noch für die Befürchtung, Stimulanzien könnten die kindliche Hirnentwicklung stören, gibt es bisher stichhaltige Hinweise - im Gegenteil: Behandelte Kinder zeigen näher am Normalen liegende Hirnstrukturen und -funktionen als unbehandelte. Mögliche kardiologische Probleme sollten aber ernst genommen werden, betonte Prof. Banaschewski. Deshalb werden vor Behandlungsbeginn und unter der Therapie Kontrollen von Blutdruck, Puls, Appetit, Gewicht und Körperlänge sowie psychiatrischen Symptomen empfohlen, ebenso regelmäßige Auslassversuche.
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