Cartoon Kolumnen

ADHS und Narzissmus: ein diagnostischer Drahtseilakt

Dr. Pablo Hagemeyer

Und da ist sie: die Möglichkeit, dass sich narzisstische Züge entwickeln. Und da ist sie: die Möglichkeit, dass sich narzisstische Züge entwickeln. © Mahmudun - stock.adobe.com

In der Psychiatrie gibt es mitunter knifflige Fragen. Eine davon ist die Unterscheidung zwischen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und narzisstischer Persönlichkeitsstörung (NPS). Auf den ersten Blick scheinen die Unterschiede klar zu sein – doch der Teufel steckt im Detail.

ADHS, oft mit impulsivem Verhalten und Hyperaktivität assoziiert, hat auch eine unauffällige Variante: die Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Hier kämpfen Betroffene still und leise mit innerer Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten. Oft bleibt diese Form lange unbemerkt, durch Normalisierung der Gehirnfunktion im jungen Erwachsenenalter, aber einen vorzeitigen Rückgang in späteren Jahren. Unter dem Druck des Erwachsenenlebens mit seinen komplexeren Belastungen wird der Arbeitsplatz plötzlich zur Herausforderung, soziale Beziehungen geraten ins Wanken. Und da ist sie: die Möglichkeit, dass sich narzisstische Züge entwickeln. Etwa ein Hunger nach Bestätigung und Anerkennung, befeuert durch eine zunehmende Selbstwertproblematik. Oder eine narzisstische Abwehr, erkennbar als antagonistische Verhaltensweisen mit Verkehrungen ins Gegenteil, Delegierung von Verantwortung und Schuld, begleitet von empathieloser Selbstbezogenheit. Was für ein gestörter Arsch, mag man da schnell narzisstisch urteilen.

Doch werfen wir einen genaueren Blick auf die NPS: Sie ist geprägt von einem jahrelang bestehenden übersteigerten Selbstbild und einem willentlichen Mangel an Empathie. Das Bedürfnis nach Bewunderung kann zu schmerzhaften Reaktionen auf Kritik führen. Hier kommt es zur Verwirrung: Wo endet der Narzissmus und wo beginnt die ADHS-bedingte Angst vor Zurückweisung? Das zu beantworten, ist nicht einfach. Es erfordert die Kunst, zwischen feinen Nuancen zu unterscheiden.

Ein Blick auf die Diagnosetools zeigt: Wir haben mittlerweile hochwertige Kurztests, die uns helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, etwa das PID5BF oder den klassischen HASE-Test. Diese Instrumente sind unsere Kompassnadeln im Dickicht der Diagnosen.

Mit der neuen ICD-11 fällt die bisherige Diagnose der narzisstischen Persönlichkeitsstörung weg. Stattdessen müssen wir uns mit einer Persönlichkeitsstörung mit antagonistischen Zügen und negativer Affektivität auseinandersetzen. Emotionale Labilität, Ängstlichkeit und Trennungsängste sind die Marker der neuen Diagnose, die das gesamte Spektrum einer narzisstischen Selbstwertstörung abbildet, vom grandiosen bis zum vulnerablen Narzissmus. Das macht die Unterscheidung zu ADHS noch kniffliger. Um die klinische Einschätzung kommen wir aktuell nicht herum; valide Biomarker gibt es nicht.

Die therapeutischen Ansätze sind so unterschiedlich wie die Störungen selbst. Während ADHS häufig sehr wirksam mit Stimulanzien, kognitiver Verhaltenstherapie und Strategien gegen Verzettelung und Aufschieberitis behandelt wird, erfordert die NPS eine tiefere psychotherapeutische Arbeit. Persönlichkeitsveränderungen lassen sich nur durch beinharte Reflexion einleiten. So entwickeln die Betroffenen Empathie und reduzieren Antagonismus. Die Zielgerade beider Behandlungswege ist identisch: Self-Awareness zu fördern und zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern. Dennoch bleibt die Differenzierung zwischen ADHS und NPS ein anspruchsvoller Balanceakt. Doch mit dem richtigen Wissen, den passenden Tests und einem empathischen Ansatz können wir den Betroffenen helfen, ihre Herausforderungen zu meistern und ein erfülltes Leben zu führen.

Liebe Leserinnen und Leser,

mein Name ist Pablo Hagemeyer. Ich bin Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leite eine Praxis in Oberbayern. Als Buchautor und Experte für Narzissmus liegen mir besonders Selbstwertproblematiken und ihre Behandlung am Herzen, denn diese bergen große Herausforderungen für die Selbstentwicklung. In meiner Kolumne möchte ich die kleinen und großen Fragen des (Therapeuten-)Alltags beleuchten und aufzeigen, wie die moderne Psychiatrie Anknüpfungspunkte im gesellschaftlichen Diskurs sucht. So helfen wir jenen, die in der heutigen Zeit orientierungslos werden – sei es als Individuum, in persönlichen Beziehungen oder im größeren sozialen Kontext.

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Und da ist sie: die Möglichkeit, dass sich narzisstische Züge entwickeln. Und da ist sie: die Möglichkeit, dass sich narzisstische Züge entwickeln. © Mahmudun - stock.adobe.com