Alkoholentzug beim Hausarzt: Ist das nur verschwendete Zeit?

Dr. Carola Gessner, Foto: fotolia, Yvonne Weis

Würden Sie sich die Aufgabe ans Bein binden, einen Alkoholkranken ambulant trocken zu bekommen? Ein niedergelassener Kollege aus Oldenburg schilderte sein erfolgreiches Entzugskonzept.

Herr Meyer ist 45 Jahre alt, verheiratet seit 20 Jahren und hat zwei Kinder im Teenageralter. Seit seinem Realschulabschluss arbeitet er Schicht in einem metallverarbeitenden Unternehmen und hat ein Eigenheim, das er allerdings noch abbezahlen muss. Seinen Stress dämpft er mit drei bis vier Flaschen Bier und „einigen Kurzen“ am Tag. Jetzt kommt er zum Gesundheitscheck, sitzt vor Ihnen – rotgesichtig, leicht übergewichtig.

Sätze, die Ihnen die Tür öffnen

Der Blutdruck ist zu hoch, dagegen nimmt Herr M. einen ACE-Hemmer und ein Diuretikum. Sie wissen, dass der Mann zu viel trinkt. Aber Sie wissen auch, dass Sie ein Fass aufmachen, wenn Sie das jetzt ansprechen – dann reichen die zehn Minuten Planzeit nicht. Dennoch rät Dr. Volker Nüstedt, niedergelassener Internist in Oldenburg, Mut zu fassen und die lohnende Aufgabe in Angriff zu nehmen. Als Voraussetzung für das Projekt nannte der Kollege das „Verständnis der Abhängigkeit auf neurophysiologischer Ebene“, das Sie auch dem Betroffenen selbst vermitteln sollten (s. Kasten).

Und nutzen Sie bereits vorsichtige Äußerungen wie „Ja, ich glaube, ich trinke da ein bisschen viel“, um ins Thema einzusteigen, riet der Referent. Zum Ziel führen einfühlsame Fragen, z.B.:

  •     Machen Sie sich manchmal Sorgen um Ihren Alkoholkonsum? 
  •     Sind Sie schon einmal darauf angesprochen worden? 
  •     Gibt es dadurch Probleme zu Hause?


Mit solchen Angeboten gelingt es am ehesten, „die Tür zu öffnen“. Um Ihr Zeitbudget akut nicht zu sehr zu strapazieren, bieten Sie kurzfristig weitere Termine an, riet der Experte. Und empfehlen Sie ein Trinktagebuch, „nicht damit Sie Bescheid wissen, sondern damit der Patient Bescheid weiß.“ Bei der Aufklärung über Krankheit und Therapieoptionen kommt die Möglichkeiten der ambulanten Entgiftung ins Spiel. Natürlich erörtert Dr. Nüstedt auch die Möglichkeit der stationären qualifizierten Entgiftung. Doch viele Suchtkranke bevorzugen den ambulanten Versuch, damit sie nicht ins Krankenhaus müssen und eventuell sogar arbeitsfähig bleiben.Der Entzug beim Hausarzt kommt für Patienten infrage, die folgende Voraussetzungen erfüllen:

  • vorhandene Absprache-/Testierfähigkeit: „Kommt einer mit 2,5 Promille in die Praxis und kann kaum stehen, ist das kein Kandidat – aber Herr Meyer kommt ja nicht alkoholisiert und ist ohne Zweifel testierfähig.“
  • nicht alleine lebend: „Es bedarf einer stabilen, alkoholfreien Umgebung – ein allein Lebender könnte in der kritischen Zeit vielleicht für einige Tage zu Eltern, Kindern oder Freunden ziehen.“
  • keine Krampfanfälle in der Anamnese
  • kein manifestes Entzugssyndrom
  • keine Kontraindikationen (Begleit­erkrankung, Medikation)


In jedem Fall schließt Dr. Nüstedt einen Behandlungsvertrag („Distra-Plan“). „Den lese ich den Patienten immer vor, damit ich sicher bin, dass sie ihn auch verstehen.“ Die Entgiftung erfolgt mit Clomethiazol (Distraneurin®). Dabei werden die Patienten ausdrücklich darüber informiert bzw. davor gewarnt, dass begleitender Alkoholkonsum schwere, lebensbedrohlichen Komplikationen auslösen kann.

Großhirn einfach ausgetrickst

  • Das Problem Alkoholabhängigkeit „sitzt“ im mesolimbischen System, wo die phasische Aktivierung von Dopaminrezeptoren bei Alkoholkonsum das Belohnungssystem stimuliert – unter Umgehung des Großhirns, wie es Dr. Nüstedt formulierte.

  • Die phasische Wiederkehr führt zur Verselbstständigung des Trinkverhaltens und zum Kontrollverlust. Aus Belohnungstrinken wird Routinetrinken.

  • Über Opiatrezeptoren erfolgt die Vermittlung von Ruhe und Entspannung. Der Verstand kann hierauf nur begrenzt Einfluss nehmen. Doch es ist möglich, in diese Systeme einzugreifen und andere Reflexe zu implementieren, betonte der Internist.

Das rezeptierte Clomethiazol kommt von der Apotheke direkt in die Praxis. Der Patient erhält dort nur die jeweilige Tagesdosis, ca. 6–10 Kapseln täglich in den ersten 48 h. Ab dem dritten Tag wird die Dosis reduziert. Der Bedarf variiert – u.a.  je nach Größe und Gewicht, bisherigen Entzugsverläufen, Trinkmenge, -dauer und Ernährungszustand. Als Begleitmedikation setzt Dr. Nüstedt Carbamazepin ein (200 mg 1-0-1 für 10–14 Tage). Hinzu kommen Vitamin B1 sowie eventuell B-Komplex – „insbesondere bei schlecht ernährten Junggesellen“. Und nachdem die Clomethiazol-Gabe beendet ist, kann abends die angstlösende Medikation mit Opipramol helfen.

Täglicher Kontakt fordert nicht viel Zeit

Der tägliche Kontakt in der Praxis über die ersten sieben Tage (während der Clomethiazol-Gabe) raubt Ihnen nicht viel Zeit: Blickkontakt, Abstinenzkontrolle, Blutdruckmessung – das Wichtigste lässt sich in wenigen Minuten erledigen.„Ich mache das seit 15 Jahren und blicke auf mehr als 400 abgeschlossene Entgiftungen zurück,“ berichtete der Kollege.

Drei Krampfanfälle hat er dabei insgesamt gesehen, vor allem in den ersten Jahren (ohne Carbamazepin). In allen drei Fällen hatten die Patienten aber auch ihre erste Distra-Dosis erbrochen. „Wir geben deshalb die erste Portion in der Praxis und warten dann 30–60 Minuten – seitdem ist nichts mehr passiert.“In etwa 2 % kam es in Dr. Nüstedts Kollektiv zu schwereren Entzugsverläufen, die eine Infusionstherapie und Antiemetika-Gabe notwendig machten. Alles in allem zieht der Internist jedoch ein absolut positives Fazit. Er erlebte Patienten mit hohem Leidensdruck und hoher Compliance, die „wertvolle, abstinente, zufriedene Jahre gewinnen konnten“.

Quelle: 122. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin

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