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Auf dem europäischen Kardiologenkongress wurden vier neue Leitlinien vorgestellt
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Update Hypertonie
Von Bedeutung ist die Einführung einer neuen Blutdruckklassifikation. Die Kategorien wurden von sieben auf drei verschlankt. Ganz neu eingeführt wurde die mittlere Kategorie „erhöhter Blutdruck“ mit den Grenzwerten von 120 – 139 mmHg systolisch und 70 – 89 mmHg diastolisch. Bei dieser Patientengruppe soll der Fokus auf die Risikostratifizierung gelegt werden, um diejenigen herauszufiltern, die von einer blutdrucksenkenden Therapie profitieren können.
Erreicht werden soll unter der blutdrucksenkenden Therapie ein systolischer Druck von 120 – 129 mmHg – sofern dies möglich ist und vertragen wird. Klappt das nicht, sollte der Druck so tief wie machbar gesenkt werden (ALARA-Prinzip = as low as reasonably achievable).
Prof. Dr. John McEvoy von der National University of Ireland in Galway kündigte an, dass es bei der Erreichung von Blutdruckzielwerten „viel zu tun gibt“. Bei Diagnose und Verlaufsmanagement wird mehr Gewicht auf die Selbst- und 24-Stunden-Blutdruckmessung gelegt. Wo dies nicht möglich ist, sollen Praxismessungen wiederholt durchgeführt werden.
Prof. Dr. Rhian Touyz wies auf neue Ernährungsempfehlungen hin. Demnach wird Personen mit Hypertonie ohne moderate bis fortgeschrittene chronische Niereninsuffizienz geraten, ihren Zuckerkonsum auf höchstens 10 % der Gesamtenergiezufuhr herunterzuschrauben und ihre Kaliumaufnahme um 0,5 –1 g/Tag zu erhöhen.
Auch bei der pharmakologischen Behandlung gibt es Neuerungen. Menschen mit diagnostizierter Hypertonie beginnen die Therapie mit einer Zweifachkombination und erweitern diese bei unzureichendem Ansprechen auf eine Tripeltherapie, die ggf. auftitriert werden kann. Bei bestimmten Patientengruppen, wie z. B. bei solchen mit resistenter Hypertonie, enthalten die neuen Empfehlungen auch die Möglichkeit einer renalen Denervation. Die Entscheidung soll in enger Abstimmung mit den Erkrankten getroffen und in spezialisierten Zentren vorgenommen werden.
Update chronisches Koronarsyndrom
„Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als eine einfache Stenose.“ So fasste Prof. Dr. Christiaan Vrints vom Antwerp University Hospital, Belgien, die Erkenntnisse zusammen, dass beim chronischen Koronarsyndrom (CCS) ein Umdenken hin zu multifaktoriellen Ursachen stattgefunden hat. Für einen Vorabtest zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer obstruktiven koronaren Herzkrankheit (KHK) wurde eine Klasse-I-Empfehlung ausgesprochen. Dieses neue sog. Risk Factor-weighted Clinical Likelihood Model ist präziser und ersetzt die bisherigen Vorhersagemodelle. Bei Personen, bei denen ein niedriges bis moderates Risiko ermittelt wurde, ist eine CT-Angiografie der nächste Schritt. Wird hierüber eine obstruktive KHK ausgeschlossen, sollten die häufig vorkommende Angina mit nicht-obstruktiver KHK und die seltenere Ischämie mit nicht-obstruktiver KHK zur weiteren Abklärung in Betracht gezogen werden.
In der Abwägung zwischen Blutungs- und Thromboserisiko hat man bei Personen mit CCS, die eine Langzeittherapie mit Plättchenaggregationshemmern benötigen, den Weg für Clopidogrel und ASS ein wenig geöffnet. Das erläuterte Prof. Dr. Felicita Andreotti vom Agostino Gemelli University Hospital in Rom. Für Erwachsene mit vorausgegangenem Myokardinfarkt oder perkutaner Koronarintervention (PCI) wird Clopidogrel in der Dosierung 75 mg/d als sichere und effektive Alternative zu ASS angesehen. Bei Betroffenen mit CCS ohne Myokardinfarkt oder PCI, aber mit nachgewiesener obstruktiver KHK, wird eine lebenslange ASS-Gabe (75 – 100 mg/d) empfohlen. Die Dauer der dualen Plättchenhemmung kann bei Personen, die zwar einem hohen Blutungs-, aber niedrigen Ischämierisiko unterliegen, auf ein bis drei Monate nach PCI verkürzt werden, mit anschließender Weiterführung einer Monotherapie. Der GLP-1-Rezeptoragonist Semaglutid hat eine IIa-Empfehlung bei Übergewichtigen ab einem BMI > 27 kg/m2 auch ohne Diabetes bekommen, um in dieser Patientenklientel kardiovaskuläre Ereignisse zu reduzieren.
Liegt eine Hauptstammstenose bei geringem Operationsrisiko vor, wird die koronare Bypassoperation als bevorzugte Revaskularisationsmethode gegenüber der PCI empfohlen. Sie birgt ein geringeres Risiko für einen spontanen Myokardinfarkt und eine erneute Revaskularisation.
Die besondere Stellung von Frailty in der Hypertonieleitlinie
Bestimmte Subgruppen wurden in der neuen Leitlinie für erhöhten Blutdruck und Hypertonie explizit berücksichtigt, darunter z. B. ältere und gebrechliche Menschen. Bei dieser Patientenklientel ist nicht mehr das numerische Alter entscheidend, sondern vielmehr der Grad der Gebrechlichkeit. Um diese Frailty genauer zu ermitteln, wird in der Leitlinie eine Frailty-Skala zur Verfügung gestellt. Ältere Menschen < 85 Jahre, die keine Zeichen von Gebrechlichkeit aufweisen, sollten laut neuen Empfehlungen pharmakologisch wie Jüngere behandelt werden, vorausgesetzt, die Therapie wird vertragen. Ab einem Alter von 85 Jahren kann dann in Erwägung gezogen werden, höhere Blutdruckgrenzwerte und mildere Ziele anzusetzen, wenn moderate bis schwere Frailtygrade vorliegen, bei orthostatischer Dysregulation oder geringer Lebenserwartung.
Update Vorhofflimmern
Prof. Dr. Isabelle van Gelder vom University Medical Centre Groningen appellierte, ab jetzt alle Menschen mit Vorhofflimmern (VHF) unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie oder Risikoprofil nach dem neuen patientenzentrierten AF-CARE-Ansatz zu behandeln. Dieser enthält folgende Schritte:
- Management von Komorbiditäten und Risikofaktoren
- Vermeidung von Schlaganfällen und Embolien
- Reduzierung von Symptomen durch Rhythmus- und Frequenzkontrolle
- Evaluation und dynamische Neubewertung
Die Expertin betonte, dass der erste Punkt, die Identifizierung und Behandlung aller Komorbiditäten, den zentralen Part für ein erfolgreiches VHF-Management darstellt. Die Behandlungen der Risikofaktoren Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Diabetes, Adipositas, körperliche Inaktivität und hoher Alkoholkonsum haben in diesem Zusammenhang eine Klasse-I-Empfehlung erhalten.
Um Schlaganfälle und Thromboembolien zu vermeiden, enthält die neue Leitlinie die Empfehlung, lokal validierte Risikoinstrumente oder den CHA2DS2-VA-Score anzuwenden. Beträgt dieser 1, hat die Antikoagulation eine Klasse-IIa-, bei ≥ 2 eine Klasse-I-Empfehlung. Antikoaguliert wird immer mit DOAK, außer es liegt eine mechanische Herzklappe oder eine Mitralstenose vor. Prof. van Gelder mahnte zudem, dass bei Rhythmus- und Frequenzkontrolle stets das Motto „safety first“ gelte, z. B. bei der Antikoagulation vor einer Kardioversion.
Eine Klasse-I-Empfehlung gibt es für die Katheterablation als Erstlinientherapie bei paroxysmalem Vorhofflimmern. Endoskopische oder hybride Ablationen können in Betracht gezogen werden bei persistierendem VHF trotz antiarrhythmischer Medikamente, wie Prof. Dr. Dipak Kotecha von der University of Birmingham berichtete.
Update PAVK und Aortenerkrankungen
Erstmals wurden die Leitlinien zur peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (PAVK) und zu Aortenerkrankungen zusammengefasst. Beide Erkrankungen entspringen demselben vaskulären System und ihr Management ist ähnlich.
Um bei Menschen mit PAVK das kardiovaskuläre Gesamtrisiko zu reduzieren, gilt es als wesentlich, das LDL-Cholesterin unter 1,4 mmol/l (55 mg/dl) bzw. um mindestens 50 % des Ausgangswertes zu senken. Dies soll „so schnell wie möglich, so aggressiv wie möglich und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erreicht werden“, so Prof. Dr. Lucia Mazzolai vom University Hospital Centre Vaudois in Lausanne. Eine Revaskularisierung wird bei asymptomatischen Patientinnen und Patienten nicht mehr empfohlen. Im Rahmen des Lifestylemanagements ist körperliches Training dreimal wöchentlich für mindestens 30 Minuten und über mindestens 12 Wochen vorgesehen.
Bei den Aortenerkrankungen ist wichtig, dass die Nomenklatur der Aortensegmente und der Messverfahren standardisiert wurde. Prof. Dr. Jose Palomares vom Vall Hebron Hospital in Barcelona appellierte, diese Nomenklatur zu verinnerlichen, um eine einheitliche und unmissverständliche Kommunikation innerhalb der Ärzteschaft zu gewährleisten.
Einem neuen Algorithmus für Menschen mit Aortenerkrankungen ist zu entnehmen, welche Operationsmethode ab einem Aortendurchmesser ≥ 50 mm abhängig von weiteren Patientencharakteristika empfohlen wird. Neben dem Aortendurchmesser werden nun u. a. auch ein Aortenhöhenindex > 32,1 mm/m Körpergröße und eine Aortenlänge > 11cm als Risikofaktoren für ein Aortenereignis angesehen. Zwei weitere neue Algorithmen geben Orientierung beim Management eines akuten Aortensyndroms sowie einer thorakalen Aortenerkrankung, der u. U. ein Gendefekt zugrunde liegen kann.
Quelle: ESC* Congress 2024
* European Society of Cadiology
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