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Beim Morbus Menière auch auf psychogene Vertigo achten
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Typisch für den M. Menière ist die Kombination von anfallsartigem Drehschwindel, Hörminderung und Tinnitus. Die organisch bedingten Anfälle können mehrmals im Monat auftreten oder nur alle paar Jahre. In 3–7 % der Fälle kommt es zu plötzlichen Stürzen („drop attacks“) ohne Vorwarnzeichen. Die Symptomatik wandelt sich im Verlauf der Innenohrerkrankung: Die Schwindelanfälle nehmen in der Regel ab. Es entwickelt sich eine meist einseitige vestibuläre Unterfunktion. Der Hörverlust verstärkt sich für gewöhnlich und es kann eine persistierende Vertigo dominieren, schreibt Dr. Helmut Schaaf von der Tinnitus-Klinik Dr. Hesse am Krankenhaus Bad Arolsen.
Fehlende sensorische Rückanpassung
Viele Patientinnen und Patienten mit rezidivierenden Menière-Attacken leiden zusätzlich an psychischen Symptomen wie Ängsten (bis hin zur Panik) oder einer depressiven Reaktion. Die Erkrankung sei beispielhaft dafür, wie sich aus einem organisch bedingten Schwindel eine zunehmende, reaktiv psychogene Vertigo entwickeln kann, erklärt Dr. Schaaf. Von großer Bedeutung ist dabei die fehlende Rückanpassung der im Anfall sinnvollen Inhibition vestibulärer Reaktionen.
Das limbische System kann die Empfindlichkeit für Impulse aus den Gleichgewichtsorganen reduzieren. Wird diese Anpassung nach einer Schwindelattacke nicht zurückgesetzt, etwa aus Angst, kommt es zu einer Dominanz der visuellen und propriozeptiven Wahrnehmung. In bewegter Umgebung (etwa im Straßenverkehr) kann dies zu Scheinbewegungen und Destabilisierung führen. Der Schwindel hält an.
Furcht und Vorsicht führen häufig zu einem Vermeidungsverhalten, im Extremfall bis zum Liegenbleiben im Bett, weil sämtliche Bewegungen als Schwindel missgedeutet werden. Die genannten Faktoren erhöhen das Risiko für Angststörungen und Depression und damit wieder für eine Fehladaptation.
Wie das Handy bei der Diagnostik hilft
Mit dem Smartphone können Schwindelbetroffene bei einem Anfall nicht nur Hilfe anfordern. Wenn sie das Vorgehen zuvor ausreichend geübt haben, können sie selbst oder umstehende Personen die Augenpartie und mögliche Nystagmen filmen. Das hilft bei der Diagnose eines M. Menière und bei der Differenzierung von somatischem und psychogenem Schwindel. Auch die Nutzung einer „Hörtest-App“ während oder kurz nach einer Schwindelattacke ist sinnvoll. Nystagmen mit einer horizontalen Schlagrichtung sprechen für einen Menière-Anfall, ebenso Schwankungen bzw. Verluste im Tieftonbereich beim Hörtest.
Quelle: Schaaf H. Laryngorhinootologie 2021; 100: 10-11; DOI: 10.1055/a-1300-8332
Es müssen aber weitere Prozesse hinzukommen, die erklären, warum sich ein reaktiver Schwindel entwickelt. Ein möglicher Faktor ist die Unterschätzung der eigenen Bewältigungskompetenz. Dysfunktionale kognitive Annahmen („Ich bin nicht gut genug“) verfestigen die psychogene Vertigo. Nicht hilfreich sind auch irrationale negative Bewertungen à la „Der Menière wird mein Leben zerstören“.
Das häufigste Begleitgefühl des Schwindels ist die Angst aufgrund des Kontrollverlusts und der unvorhersehbaren Anfälle. Hinzu kommt Scham im Falle von Erbrechen. Diese Mechanismen laufen überwiegend unbewusst ab und treten unabhängig vom Schweregrad der organischen Veränderungen auf. Die psychogene Vertigo kann sich auch noch verfestigen, wenn das Vestibularorgan seine Funktion bereits verloren hat.
Eine kurative Therapie des M. Menière ist bisher nicht möglich, aber die negativen Auswirkungen lassen sich reduzieren. So kann man die Attacken mildern. Zudem gibt es inzwischen Ansätze zur intratympanalen Steroidbehandlung. In schweren Fällen kann die Funktion des Vestibularorgans (z. B. mit Gentamicin) ausgeschaltet werden.
Die Betroffenen können sich auf Anfälle vorbereiten
Wichtig ist, die Patientinnen und Patienten über die Natur der Erkrankung und geeignete Bewältigungsstrategien zu informieren. Für Betroffene kann es befreiend sein, zu verstehen, warum sich bei einem körperlichen Schaden ein Dauerschwindel entwickeln kann. Wenn möglich, sollte man die Erkrankten in die Lage versetzen, sich selbst auf Anfälle vorzubereiten: etwa mit Zäpfchen und Tabletten gegen Übelkeit (z. B. Dimenhydrinat, bei zuverlässigen Patientinnen und Patienten auch Lorazepam) und einer Tüte für den Fall des Erbrechens. Das Smartphone ist sinnvoll, um Hilfe anzufordern, kann aber auch zur Diagnosesicherung verwendet werden (s. Kasten).
Bei einer fluktuierenden Hypakusis gilt es, dem Verlust des Richtungshörens frühzeitig entgegenzutreten. Cochleaimplantate sind hilfreich, wenn die nicht-operativen Optionen ausgeschöpft sind, können aber den Verlauf des Menière nicht stoppen.
Quelle: Schaaf H. HNO 2024; DOI: 10.1007/s00106-024-01484-1
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