Darf’s ein bisschen weniger sein?

ESC 2023 Dr. Angelika Bischoff

Ein Experte empfiehlt, den Blutdruck bei hohem kardiovaskulärem Risiko unabhängig vom Ausgangswert zu senken. Ein Experte empfiehlt, den Blutdruck bei hohem kardiovaskulärem Risiko unabhängig vom Ausgangswert zu senken. © Rido - stock.adobe.com

Ist unsere Vorstellung von einem normalen Blutdruck falsch? Sollte es einen niedrigeren Zielwert geben? Oder geht es vielmehr darum, Antihypertensiva unabhängig vom Ausgangswert als Mittel zur kardiovas­kulären Risiko­reduktion zu sehen? Darüber diskutierten zwei Experten.

Das ein normaler physiologischer Blutdruck ist, zeigt am besten der Blick auf Populationen nicht industrialisierter Länder. In solchen Bevölkerungen liegt der durchschnittliche systolische Blutdruck bei etwa 100 mmHg und nimmt nicht mit dem Alter zu, erklärte Prof. Dr. Kazem Rahimi, University of Oxford. Und bei gesunden Menschen ist das Risiko für kardio­vaskuläre Ereignisse umso niedriger, je tiefer der Druck ist. Das gilt einer Untersuchung zufolge hinab bis zu Werten von 90 mmHg systolisch. 

Da zudem fast ein Drittel der weltweiten Todesfälle, die einem erhöhten Blutdruck zugeschrieben werden, Menschen mit Werten < 140 mmHg betreffen, argumentierte Prof. Rahimi klar dafür, den Blutdruck so weit wie möglich zu senken. Und der Kollege ging sogar noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach sollte Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko eine antihypertensive Therapie weitgehend unabhängig von ihrem Ausgangsblutdruck angeboten werden.

Prof. Dr. Reinhold ­Kreutz von der Charité – Universitätsmedizin Berlin betonte hingegen, dass die in vielen Ländern etablierte Empfehlung, eine Behandlung bei Werten ≥ 140/90 mmHg zu beginnen, auf breiter Evidenz basiert. Doch auch für eine Senkung bei Ausgangsdrucken <140/90 mmHg gebe es Evidenz, meinte Prof. Rahimi – z.B. aus einer BPLTTC**-Metaanalyse.1 Demnach entfaltet die antihypertensive Therapie bei Patienten mit und ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie über alle Baseline-Blutdruckkategorien (inkl. < 120 mmHg) hinweg einen ähnlichen proportionalen Effekt. Pro 5 mmHg Reduktion des systolischen Drucks nahm das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse im Laufe des vierjährigen Follow-ups um ca. 10 % ab.

Methodik macht „aus einer Mücke einen Elefanten“

Kritik gab es von Prof. Kreutz an der Methodik dieser Analyse. Der Kollege betrachtete es als Problem, dass Antihypertensiva-Vergleichsstudien wie LIFE (Losartan versus Atenolol) eingeschlossen wurden, die gar nicht dafür konzipiert waren, Zielwerte zu untersuchen. Wenn man nun die Endpunkteffekte dieser Studien auf 5 mmHg standardisiert, haben minimale Blutdruckunterschiede in den einzelnen Studien riesige Auswirkungen. Beispiel LIFE: Der systolische Durck war in der Lo­sartangruppe um 1,2 mmHg niedriger als in der Atenololgruppe. Man erreichte eine Risikoreduktion um 13 % zugunsten von Losartan. Rechnet man diesen Vorteil hoch auf eine Blutdruckdifferenz von 5 mmHg, „wird wirklich aus einer Mücke ein Elefant gemacht“, so Prof. ­Kreutz. Verallgemeinern ließen sich die Ergebnisse der Metaanalyse nicht.

Ein Experte empfiehlt, den Blutdruck bei hohem kardiovaskulärem Risiko unabhängig vom Ausgangswert zu senken

Die HOPE-3-Studie, durchgeführt an Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung, aber erhöhtem Risiko dafür, rundet diesen Eindruck ab.2 Nur Patienten, die zu Beginn eine Hypertonie > 143,5 mmHg aufwiesen, erfuhren durch die Gabe von Candesartan plus HCT eine si­gnifikante Risikoreduktion um 27 %. Diejenigen mit Ausgangswerten < 131,5 mmHg erlitten tendenziell sogar mehr kardiovaskuläre Ereignisse. Insgesamt hatte die Blutdrucksenkung einen neutralen Effekt. In der BPLTTC-Metaanalyse wurde diese wichtige Studie gar nicht berücksichtigt, bemerkte Prof. ­Kreutz. Prof. Rahimi zufolge fehlte es der HOPE-3-Studie allerdings an statistischer Power, sodass er ihr im Vergleich zur breiten Evidenz für den Nutzen einer stärkeren Blutdrucksenkung zweifelhafte Bedeutung beimisst. 

Antihypertensiva waren in allen Subgruppen von Vorteil

Die große Datenmenge erlaubt auch Untersuchungen in verschiedenen Subgruppen. Von der BLTTC liegen Analysen für Patienten mit Vorhofflimmern, Diabetes oder manifester kardiovaskulärer Erkrankung vor. Auch der Einfluss von Geschlecht und Alter wurde untersucht. Laut Prof. Rahimi fand sich kein Hinweis darauf, dass irgendeine Subgruppe über verschiedene Blutdruckkategorien hinweg nicht von Antihypertensiva profitieren würde. Für seine propagierte Regel, Risikopatienten unabhängig vom Ausgangswert zu behandeln, gebe es natürlich auch Ausnahmen.

Prof. ­Kreutz plädierte dafür, auf solche Ausnahmen unbedingt Rücksicht zu nehmen, um Betroffenen keinen Schaden zuzufügen. Ein Beispiel sind Patienten mit linksventri­kulärer Hypertrophie, denn diese geht häufig mit einer gestörten myo­kardialen Mikrozirkulation einher. Eine aktuelle Studie spricht dafür, dass eine Reduktion des systolischen Drucks auf < 130 mmHg die Mortalität in dieser Population erhöht.3

Erst einmal darauf konzentrieren, bisherige Zielwerte zu erreichen

Insgesamt bewerte die ESC-Leitlinie die Evidenz korrekt, so Prof. ­Kreutz. Der Zielwert sollte generell bei < 140/90 mmHg liegen. Wenn es ohne Verträglichkeitsprobleme möglich ist, unter 130/80 mmHg zu kommen, kann man dies bei den meisten Patienten versuchen. Aber ein Ziel < 120/70 mmHg sollte niemals angestrebt werden, weil es für einen Zusatznutzen keine konsistente Evidenz gebe, befand der Kollege. 

Abgesehen davon: Bevor man über niedrigere Blutdruckziele mit unklarem Nutzen diskutiert, sollte man sich laut Prof. Kreutz erst einmal darauf konzentrieren, dass mehr Hypertoniepatienten Werte < 140/90 mmHg erreichen, als dies bisher der Fall ist. Damit erhalte man bereits den größten Teil der Risikoreduktion.

*    European Society of Cardiology
**    Blood Pressure Lowering Treatment Trialists‘ Collaboration

Quellen:
1 Blood Pressure Lowering Treatment Trialists‘ Collaboration; Lancet 2021; 397: 1625-1636
2 Lonn EM et al. N Engl J Med 2016; 374: 2009-2020
3 Heimark S et al. Hypertension 2023; 80: 1739-1748

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