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Der ASS-Platz wackelt
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Der Kardiologe Dr. Carlos Aguiar vom Hospital Santa Cruz in Lissabon macht sich für ASS stark. Bei Herzinfarktpatienten kann der Plättchenhemmer in den ersten 35 Tagen die kumulative Rate an vaskulären Todesfällen um 23 % gegenüber Placebo senken, erklärte der Kollege. Nach ischämischem Schlaganfall vermindet er die Rate erneuter Insulte in den ersten zwölf Wochen im Vergleich um 53 %. Für beide Indikationen besteht daher in der Leitlinie eine Klasse-1A-Empfehlung.
Was die Primärprävention angeht, zeigt ein in diesem Jahr aktualisiertes Review mit Daten von knapp 135.000 Patienten einen begrenzten Nutzen niedrig dosierter ASS. Unter der Therapie gab es 10 % weniger schwere kardiovaskuläre Ereignisse, 11 % weniger Herzinfarkte und 18 % weniger Schlaganfälle. Der Benefit war vor allem in den ersten ein bis zwei Jahren zu beobachten. Erkauft wurde er mit signifikant mehr Blutungen, besonders im ersten Jahr. So stieg die Häufigkeit gastrointestinaler Blutungen um 58 %, die intrakranieller um 31 %. Auf die Mortalität hatte die Prophylaxe keinen Einfluss.
Clopidogrel und Ticagrelor zum Teil überlegen
Ebenfalls in diesem Jahr erschien eine Modellstudie für eine hypothetische US-Kohorte. Inbegriffen waren Menschen im Alter zwischen 40 und 79 Jahren mit einem 10-Jahres-Risiko für atherosklerotisch bedingte kardiovaskuläre Erkrankungen von bis zu 20 %. Im Fokus stand der Einfluss von niedrig dosierter, dauerhaft eingenommener ASS. Von dieser Prävention profitierten in erster Linie Menschen, die im Alter zwischen 40 und 49 Jahren damit begannen und ein höheres 10-Jahres-Risiko aufwiesen. Eine klare Empfehlung für die vorbeugende Therapie gibt es in keiner Leitlinie.
Was die kardiovaskuläre Sekundärprävention angeht, schneiden P2Y12-Hemmer in einigen Studien etwas besser ab als ASS. So lassen sich schwere Ereignisse mit Clopidogrel und Ticagrelor etwa um ein Viertel besser reduzieren als mit ASS, allerdings teilweise mit sehr hohen Numbers needed to treat. In den Leitlinien steht ASS weiterhin an erster Stelle.
Für Dr. Aguier ergaben sich aus allen Daten zwei wichtige Take-home-Messages: Bei akuten atherosklerotischen kardiovaskulären Erkrankungen rettet ASS Leben. In der Primärprävention kann man es nicht generell empfehlen und in der Sekundärprävention bleibt es als Monotherapie ein Grundpfeiler.
„Time to say goodbye“, meinte dagegen Prof. Dr. John Cleland, School of Health & Wellbeing, Universität Glasgow. Er bemängelte vor allem die Qualität der vorhandenen Studien und die Endpunkte. „Wir sollten nicht so sehr auf Krankheitsereignisse achten, die meisten verlaufen ohnehin entweder still oder führen direkt zum Tod.“ Ihn interessieren vielmehr bleibende Behinderung und Gesamtmortalität. Gerade was Letztere angehe, gebe es praktisch in keiner Studie einen wesentlichen Effekt der ASS-Prophylaxe.
Auch die positiven Studien zur Sekundärprävention kritisierte der Kollege: Fast keine wurde mit ASS-Dosen < 300 mg/d durchgeführt, von low dose konnte also keine Rede sein. Dass es kurzzeitig positive Effekte von ASS nach einem akuten Ereignis gebe, räumte er ein. Von einer Langzeitgabe dagegen zeigte er sich nicht überzeugt.
Für ihn ist das beste primär- und sekundärpräventive Rezept Rauchen stoppen, LDL senken und insgesamt gesund leben. Falls jemand eine placebokontrollierte Studie mit überzeugendem Ergebnis zu Langzeiteffekten und klaren Dosisempfehlungen finden sollte, möge er sie ihm bitte zuschicken, meinte Prof. Cleland. Dass eine entsprechende Untersuchung neu aufgelegt werde, glaubt er nicht. Solange ASS eine Klasse-IA-Empfehlung in den Leitlinien habe, bestehe dafür wohl auch keine Notwendigkeit.
Kongressbericht: ESC* Congress 2022
* European Society of Cardiology
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