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Die Gene wiegen schwer
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Der Löwenanteil der europäischen Adipositaspatienten ist aufgrund multifaktorieller Einflüsse zu dick. Doch immerhin 5 % der Fälle in Europa haben eine monogenetische Ursache, schreiben Dr. Tim Bender und Prof. Dr. Lorenz Grigull vom Zentrum für Seltene Erkrankungen in Bonn.
Komplexeres Beschwerdebild bei syndromalen Formen
Dabei unterscheidet man zwischen syndromalen und nicht-syndromalen Formen. Während bei den Letzteren die früh in der Kindheit beginnende Adipositas meist alleiniges Leitsymptom ist, liegt bei den syndromalen Formen ein komplexeres Beschwerdebild vor. Dieses geht häufig mit Entwicklungsstörungen, Fehlbildungen, Kleinwuchs, Hypogonadismus und fazialen Dysmorphien einher und erzeugt einen hohen Leidensdruck. Die Symptome sind intra- und intersyndromal sehr divergent.
Ein mittlerweile tiefgreifenderes Wissen über die Ursachen dieser seltenen Adipositasformen hilft nach Meinung der Autoren, ein besseres Allgemeinverständnis über die Volkskrankheit Adipositas zu erlangen. Gemeint ist vor allem die Kenntnis der biochemischen Signalwege und Rückkopplungsmechanismen, die unser Hungergefühl steuern. So betreffen die meisten Genmutationen, die ursächlich für die seltenen angeborenen Formen sind, den Leptin-Melanocortin-Signalweg (s. Kasten). Mutationen in diesem Stoffwechselweg können dazu führen, dass ein sättigungsinduzierender Effekt unterbunden wird und die Betroffenen eine chronische Hyperphagie entwickeln.
Das Prader-Willi-, das Cohen-und das Alström-Syndrom zählen zu den bekannteren Adipositasformen unter den seltenen Erkrankungen. Ebenfalls hierzu gehört das Bardet-Biedl-Syndrom mit einer geschätzten Prävalenz von 1:100.000 bis 1:160.000 in Europa. Biallelische Mutationen in mehr als 25 Genen führen zu einer großen Symptomvielfalt. Es treten neben Hyperphagie und stammbetonter Adipositas – 90 % der Betroffenen sind schon im 6. Lebensjahr adipös – u.a. postaxiale Hexadaktylien sowie Syn- und Brachydaktylien, Entwicklungsstörungen der Sprache, Nierenanomalien und Herzfehler auf. Therapeutisch können die genetischen Ursachen nicht behoben werden. Die Behandlung erfolgt bisher ausschließlich symptomatisch durch strikte Diät, Lebensstilanpassung und im Extremfall auch bariatrische Eingriffe.
Der Leptin-Melanocortin-Signalweg
Die Regulation des Energiehaushalts findet im Hypothalamus statt. Die Signalkaskade wird ausgelöst durch das in den Adipozyten gebildete Hormon Leptin. Über das Blut gelangt es zum Gehirn und aktiviert dort die Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R)-Neuronen des Nucleus paraventricularis, die das Sättigungsgefühl auslösen. Leptin initiiert diesen Prozess über zwei Wege:
- Es inhibiert Neuronen, die wiederum MC4R-Neuronen hemmen.
- Es stimuliert Proopiomelanocortin(POMC)-Neuronen, woraufhin das α-Melanocortin stimulierende Hormon (α-MSH) produziert wird. α-MSH aktiviert direkt die MC4R-Neuronen.
Mutationen in Genen, die an diesem System beteiligt sind und zu Störungen an der Signalkaskade führen, können das Sättigungsgefühl unterbinden. Die Folge ist eine Hyperphagie.
Nach Meinung der Autoren könnte jedoch der seit Ende 2022 zugelassene Melanocortin-Agonist Setmelanotid dazu beitragen, viele durch den Gendefekt hervorgerufene Störungen im Leptin-Melanocortin-Signalweg zu überwinden. Denn der Wirkstoff kann am Ende des gestörten Signalwegs das fehlende Sättigungsgefühl offenbar wieder herstellen. So wurde in den bisherigen Studien das von den Betroffenen oft als „alles verzehrend“ beschriebene Hungergefühl unter Setmelanotid reduziert. Ebenfalls verringerte sich das Körpergewicht und die Lebensqualität verbesserte sich deutlich.
Das Beispiel des Bardet-Biedl-Syndrom zeigt den Autoren zufolge, wie lohnenswert es ist, die biochemischen Prozesse hinter seltenen Erkrankungen zu erforschen. Denn dies hat nicht nur zur Entwicklung einer immerhin guten symptomatischen Behandlungsoption geführt. Die gewonnenen Kenntnisse bessern auch das Allgemeinverständnis der Adipositas insgesamt.
Quelle: Bender T, Grigull L. Orphan & New Drugs 2023
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