Ein Quäntchen Hoffnung

Dr. Joachim Retzbach

Die Forschung nach neuen Medikamenten gibt ALS-Betroffenen Grund zur Hoffnung. Die Forschung nach neuen Medikamenten gibt ALS-Betroffenen Grund zur Hoffnung. © olga_demina – stock.adobe.com

Heilbar ist die amyotrophe Lateralsklerose noch lange nicht. Mit neuen Therapien wollen Forscher den Krankheitsverlauf aber zumindest abbremsen. Dabei sollen Wirkstoffe helfen, die auf die genetischen Ursachen verschiedener ALS-Formen zugeschnitten sind.

Zur neuroprotektiven Therapie bei amyotropher Lateralsklerose (ALS) ist bislang in Deutschland nur ein Medikament zugelassen: der Glutamatantagonist Riluzol. Über einen Beobachtungszeitraum vom 18 Monaten verlängerte die Substanz das Überleben im Median um drei Monate. „Das ist sicher nicht das Ziel aller Wünsche, aber immerhin etwas“, stellte Prof. Dr. ­Susanne ­Petri von der Medizinischen Hochschule Hannover fest. Das Mittel kann die Abnahme der Muskelkraft verzögern, weshalb es Prof. Petri zufolge auf jeden Fall eingesetzt werden sollte.

Doch damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht – an weiteren Medikamenten wird intensiv geforscht. In den USA sind schon zwei weitere Substanzen zur neuro­protektiven Therapie zugelassen: Edaravon und AMX 0035.

Zahlen und Fakten zur ALS

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste Motoneuronerkrankung mit Beginn im Erwachsenenalter. Die jährliche Neuerkrankungsrate liegt bei 1–3/100.000 Menschen. Die Prävalenz ist aufgrund der kurzen Überlebenszeit (durchschnittlich 2–3 Jahre ab Symptombeginn) dennoch gering. Der Altersgipfel der Neuerkrankten liegt bei 50–65 Jahren, Männer sind häufiger betroffen als Frauen.

Schlaganfallpräparat verlangsamt Progression

Das Antioxidans Edaravon wurde ursprünglich zur Schlaganfalltherapie entwickelt und wird intravenös verabreicht; eine orale Formulierung ist in Vorbereitung. Es scheint vor allem jenen Patienten zu helfen, die noch nicht schwer eingeschränkt sind und deren Erkrankung noch keine zwei Jahre andauert. In dieser Subgruppe bewirkt das Mittel eine Verlangsamung des Funktionsverlustes, der Effekt auf die Überlebensdauer ist noch nicht geklärt.

AMX 0035 ist ein neues Kombinationspräparat aus Tauroursodeoxy­cholsäure und Natriumphenyl­butyrat. Eine Phase-2-Studie ergab bereits in der randomisierten Phase eine verlängerte Überlebenszeit ohne Ereignisse wie Tracheotomien; in der Open-Label-Extensionsphase wurde der Effekt noch deutlicher sichtbar. Daraufhin wurde das Mittel in den USA im Herbst 2022 zugelassen. Eine Phase-3-Studie für die mögliche europäische Zulassung läuft aktuell. 

In einer ganzen Reihe klinischer Studien werden außerdem weitere Behandlungsansätzen untersucht wie Fasudil (zur Verbesserung der Stabilität der Nervenzellfortsätze), antioxidativ und antiinflammatorisch wirkende Substanzen sowie Antikörper gegen fehlgefaltete Proteine. Auch ein Cortisolmodulator und ein Lipoxygenaseinhibitor stehen in den Startlöchern.

Große Hoffnung setzen Forscher in die Gentherapie, die in ers­ten Ansätzen bereits einsatzbereit ist. 5–10 % der ALS-Fälle gelten als ­fami­liär bedingt, 90–95 % als „anscheinend sporadisch“, d.h. ohne klare Familienanamnese. Die häufigste ALS-auslösende Mutation, die sich in fast der Hälfte der familiären Fälle findet, ist die Hexanukleotid-Repeat-Expansion im Gen C9orf72. Ebenfalls von Bedeutung sind Mutationen auf dem SOD1- und dem TDP-43-Gen. Dieselben Auffälligkeiten finde man auch in einem Teil der sporadischen Fälle, erläuterte Prof. Petri. Daher empfehle sie grundsätzlich eine genetische Testung – „­allein schon, um nicht die Patienten zu übersehen, für die es vielleicht doch in absehbarer Zeit eine Behandlung gäbe.“

Am weitesten fortgeschritten sind bislang Antisense-Oligonukleotid-­Therapien. Die Nukleinsäuren verhindern, dass die entsprechende Messenger-RNA in ein funktionsfähiges Protein translatiert wird. Für ALS mit SOD1-Mutationen wurde bereits eine Phase-3-Studie plus Extensionsphase mit dem Antisense-Oligonukleotid Tofersen publiziert. Insgesamt verlangsamte das Medikament den Krankheitsverlauf gemessen am generellen Funktionsscore und der Lungenfunktion. Aufgrund dieser Daten wurde ein weltweites Härte­fallprogramm aufgelegt, in dessen Rahmen ­Tofersen mittlerweile auch in Deutschland für Patienten mit dieser Mutation verfügbar ist. In den USA wurde das Mittel im April regulär zugelassen, die Entscheidung der EMA steht noch aus.

Allen Therapien ist gemeinsam, dass sie die Krankheitsprogression bislang nur abbremsen, die Erkrankung also nicht zum Stillstand bringen oder gar heilen können. Entscheidend ist ihr früher Einsatz und somit auch eine frühe Diagnose

Am häufigsten – in zwei Dritteln der Fälle – beginnt die Erkrankung spinal mit meist distal betonten Paresen, Muskelfaszikulationen und Krämpfen. Später kommen Muskelatrophien und gesteigerte Muskel­eigen­reflexe hinzu. Bei zirka einem Drittel der Patienten zeigt sich dagegen ein bulbärer Beginn mit Sprech- und Schluckstörungen, Zungenatrophie und z.T. auch pseudobulbärer Symptomatik wie unwillkürlichem Lachen oder Weinen. Ein respiratorischer Beginn ist selten und findet sich nur bei 2–3 % der ALS-Kranken.
Nach den aktuellen „Gold Coast Criteria“ braucht es für die Diagnose:

  • fortschreitende motorische Einschränkungen

  • Zeichen der kombinierten Affektion des ersten und zweiten Motoneurons in mindestens einer Körperregion oder Zeichen der Schädigung des zweiten Motoneurons in zwei oder mehr Körperregionen

  • Ausschluss relevanter Diffe­ren­zial­diagnosen

Der letzte Punkt zielt Prof. Petri zufolge insbesondere auf behandelbare Erkrankungen wie Myositiden oder entzündliche Neuropathien ab, hier v.a. die multifokale motorische Neuropathie.

Auch Demenzsymptome können auf ALS hindeuten

Die ALS gilt gemeinhin als Motoneuronerkrankung. Diese Sichtweise greift aber zu kurz, erläuterte Prof. Petri. Denn bis zu 15 % aller ALS-Patienten haben eine klinisch manifeste frontotemporale Demenz (FTD). Subklinische Zeichen frontaler Dysfunktion finden sich bei bis zu 50 % der ALS-Betroffenen. Klinisch zeigen sich oft eine Veränderung der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens, Enthemmung, beeinträchtigte Exekutiv- und Sprachfunktionen. Kognitive und Verhaltensauffälligkeiten sprechen daher keinesfalls gegen die Diagnose einer ALS. Die Demenzsymptome können dem Beginn der ALS auch vorausgehen. In jedem Fall gehören die Fragen nach Demenz und psychiatrischen Auffälligkeiten laut der Expertin in die Familienanamnese.

Neurofilamente haben sich als sensitive Biomarker für eine zentrale axonale Schädigung etabliert. Sie steigen bereits ein bis zwei Jahre vor dem Auftreten erster Symptome an. Die im Liquor gemessene phosphorylierte schwere Kette und die Neurofilament-Leichtkette im Serum sind dabei gleichwertig. Erst seit wenigen Jahren ist auch ein Protein­aggregat als neurobiologisches Charakteristikum identifziert. Dabei handelt es sich um zytoplasmatische Einschlüsse des Proteins TDP-43. Es ist normalerweise nukleär lokalisiert, bei ALS kommt es zu einer Fehlfaltung und Fehllokalisation.

Trotz Fortschritten bleibt die Behandlung immer palliativ

Letztlich bleibe nach derzeitigem Stand die ALS-Therapie immer symptomatisch, aber auch immer palliativ, so Prof. Petri. Multidisziplinäre Zentren und Spezialambulanzen können den Patienten und ihren Bezugspersonen in Fragen der Ernährung und Beatmung weiterhelfen. Gewichtsverlust geht mit einer schlechteren Prognose einher. Studien belegen den Benefit einer hochkalorischen und fettreichen Ernährung. Ein Nutzen ketogener Ernährung zeigte sich dagegen bislang nicht.

Die frühzeitige Anlage einer PEG kann die Lebensqualität der Patienten verbessern, gleiches gilt für den Beginn einer nichtinvasiven Beatmung. Ebenfalls möglichst früh sollte man mit den Patienten besprechen, welche lebenserhaltenden oder palliativen Maßnahmen sie sich im Ernstfall wünschen, so Prof. Petri. Bis dahin sollten aber Autonomie und Kommunikationsfähigkeit unter der Nutzung von Hilfsmitteln so lange wie möglich erhalten werden.

Quelle: Online-Veranstaltung „Neurodegenerative Erkrankungen“ vom 06.06.2023, streamed-up.com

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