Einmal gelähmt, immer gelähmt?

Dr. Angelika Bischoff

Mit Silber angefärbter Schnitt durch das zervika-
le Rückenmark: Die graue Substanz hebt sich deutlich von der weißen ab. Mit Silber angefärbter Schnitt durch das zervika- le Rückenmark: Die graue Substanz hebt sich deutlich von der weißen ab. © Science Photo Library/ Phillips, D.

Eine primäre Verletzung des Rückenmarks erfordert intensivmedizinische Maßnahmen sowie die chirurgische Dekompression und Stabilisierung. Ziel ist, den sekundären Schaden zu verringern. Die Möglichkeiten, verloren gegangene Funktionen wiederherzustellen, sind limitiert – noch.

Nach einem Trauma entwickelt sich der sekundäre Schaden im Rückenmark über Tage und Wochen, bis er eine chronische Phase erreicht mit Astrogliose, Narbenbildung, Kavitation, Inflammation, Demyelinisierung und Axonverlusten. Die neurologischen funktionellen Defizite, die sich in dieser Phase entwickeln, bleiben lebenslang bestehen, betonte Dr. Alexander Younsi von der Neurochirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg.

Schon ohne Verletzung ist die zelluläre Plastizität des ZNS gering, das Wachstum wird durch endogene Inhibitoren wie myelinassoziierte Proteine unterdrückt. Durch die Verletzung kommen weitere Hindernisse dazu: Hypertrophierte Astrozyten bilden eine Glianarbe und sezernieren inhibitorische Substanzen, Fibroblasten ersetzen untergegangenes neuronales Gewebe durch Bindegewebe.

Um die Neuroregeneration zu unterstützen, bleibt bisher nur die Rehabilitation. Mit ihr sollte man möglichst früh beginnen, obwohl die Effekte nur gering ausfallen. Intensiv geforscht wird derzeit jedoch unter anderem zu Stammzellen, Biomaterialien, extrazellulären Vesikeln und Antikörpern gegen inhibitorische Substanzen.

Stammzelltherapien im Tierversuch erfolgreich

Am Rattenmodell konnte durch mesenchymale Stammzellen (MSC)die Angiogenese induziert und das neurologisch-funktionelle Ergebnis verbessert werden. In ersten kleinen klinischen Studien aber fanden sich kaum neurologische Erfolge. Auch mit neuronalen Stammzellen (NSC) gab es vielversprechende Ergebnisse im Tiermodell. Die transplantierten Zellen integrierten sich in das Gewebe und bildeten Konnektivität über die verletzte Stelle hinaus, was sich in einer deutlich verbesserten Funktion spiegelte. Es liegen eine Reihe sehr heterogener klinischer Studien mit NSC vor; nur bei 30 % wurden überhaupt Ergebnisse publiziert, die meisten davon positiv.

Erfolgreich im Tiermodell verlief zudem die Implantation von Motoneuronen, die vorher in Kultur durch Ausdifferenzierung von Fibroblasten gewonnen wurden. Darüber hinaus wird mit Astrozyten, die durch Gentherapie zu Neuronen umprogrammiert wurden, experimentiert.

Noch mehr verspricht man sich von Ansätzen, bei denen die Stammzelltransplantation mit zusätzlichen Therapien optimiert wird, z.B. mit Biomaterialien. Wie Prof. Dr. Klaus Zweckberger von der Neurochirurgischen Klinik am Klinikum Braunschweig ausführte, dienen Biomaterialien dazu, eine Gerüststruktur zu bilden und damit die verletzte Stelle zu stabilisieren. Dadurch bessert sich das Mikromilieu und es gelingt, eine Brücke für die axonale Aussprossung zu bilden. Die Materialien eignen sich auch als Träger von Zellen oder Medikamenten. Verwendet werden Hydrogele wie Hyaluronsäure und Kollagen sowie Partikel, Fasern und Conduits. Durch Injektion von Hydrogel z.B. lassen sich die
Zelladhäsion, die Vaskularisierung und das axonale Aussprossen steigern.

Self-assembling peptides in Form eines hydrophoben Sandwichs (Glutamin und Leucin zentral, wasserlösliche Lysinketten an den Seiten) kultivierte man zusammen mit neuralen Vorläuferzellen über sieben Tage. In dieser Zeit differenzierten sich viele Zellen zu Neuronen. Das ganze „Paket“ wurde nun im Rattenmodell in das verletzte Rückenmark transplantiert. Man erreichte damit eine Abnahme von Astrogliose und Narbenbildung. Im funktionellen Outcome zeigte sich aber nur ein positiver Trend.

Extrazelluläre Vesikel gegen die Inflammation

Prof. Dr. Sébastien Couillard-Després, Institut für Experimentelle Neuroregeneration, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg, berichtete über den Einsatz von extrazellulären Vesikeln (EV), um die Entzündung nach einem Rückenmarkstrauma zu hemmen. Viele Zellarten im menschlichen Organismus sezernieren EV, auch mesenchymale Stammzellen. Sie enthalten Signalmoleküle, die zielgerichtete interzelluläre Kommunikationsprozesse steuern. EV vermitteln antiinflammatorische und antivernarbende Effekte, die mit MSC assoziiert sind. Sie lassen sich experimentell produzieren. Kultiviert man Mikroglia mit EV aus MSC, nimmt die Expression proinflammatorischer Zytokine ab. Dies bestätigte sich im Rattenmodell. Dabei waren EV sogar effektiver als MSC selbst. Intraläsional appliziert unterstützen EV die motorische Erholung wirksamer als intravenös verabreicht.

PD Dr. Andreas Hug von der Neuroorthopädischen Ambulanz am Universitätsklinikum Heidelberg diskutierte eine Therapie, die vor einigen Jahren in der Laienpresse als „die Spritze, die vor dem Rollstuhl rettet“ gefeiert wurde. Sie leitet sich aus der Tatsache ab, dass gliale Zellen Inhibitoren des Neuritenwachstums, etwa das Molekül Nogo-A, bilden. Mit einem Anti-Nogo-A-Antikörper gelang es, die axonale Aussprossung in der Kulturschale zu hemmen. Auch nach intrathekaler Applikation bei der Ratte kam der Antikörper an der Läsion an und sorgte für eine Regeneration von Axonen und Sprossung über die Läsion hinweg. Die Tiere verbesserten sich zudem in ihren Funktionsscores. Die erste Anwendung bei vollständig querschnittgelähmten Menschen in einer Phase-1-Studie enttäuschte jedoch. Der Motorscore bei thorakal Gelähmten veränderte sich überhaupt nicht, zervikal Gelähmte gewannen nur minimal dazu. Als EU-Projekt läuft derzeit die NISCI-Studie, um die Wirksamkeit des Nogo-A-Antikörpers über sechs Monate randomisiert und placebokontrolliert zu untersuchen. Patienten mit akuter traumatischer (bis zum 28. Tag) kompletter oder inkompletter Tetraplegie werden eingeschlossen.

Kongressbericht: Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin 2022

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).


Mit Silber angefärbter Schnitt durch das zervika-
le Rückenmark: Die graue Substanz hebt sich deutlich von der weißen ab. Mit Silber angefärbter Schnitt durch das zervika- le Rückenmark: Die graue Substanz hebt sich deutlich von der weißen ab. © Science Photo Library/ Phillips, D.