Fieberkrampf: Aktionismus verdrängt die Evidenz

Birgit Maronde, Foto: thinkstock

EEG überflüssig, Anfallsprophylaxe mit Fieberzäpfchen sinnlos – trotzdem sind beide Maßnahmen bei Fieberkrämpfen gang und gäbe. Sollen damit etwa nur die verängstigten Eltern beruhigt werden?

Eine typische Situation: Eine Mutter beobachtet bei ihrem 20 Monate alten Sohn erstmals einen Fieberkrampf. Der Kleine hat tonisch-klonische Zuckungen, einen starren Blick und bläuliche Lippen. „Ich hatte so Angst, dass er jetzt stirbt“, erklärt die Frau. Seit dem Ereignis gibt sie ihrem Sohn jetzt immer Paracetamol, sobald seine Körpertemperatur über 38,5 °C steigt. Hat sie mit dieser Maßnahme recht? Kann sie so ein Rezidiv des Fieberkrampfes oder gar eine sich entwickelnde Epilepsie verhindern? 

Der Neuropädiater Professor Dr. Fuat Aksu von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln nahm zu folgenden Fragen Stellung: 

1. Was versteht man unter einem Fieberkrampf?

Der Fieberkrampf ist per definitionem ein epileptischer Anfall, der bei 3 – 5 % aller Kinder ab dem 2. Lebensmonat im Fieber auftritt und weder mit einer ZNS-Infektion noch einer metabolischen Erkrankung einher geht. Auch dürfen dem Ereignis keine Neugeborenenkrämpfe oder afebrilen Anfälle vorausgegangen sein. Am häufigsten manifestiert sich ein erster Fieberkrampf zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr.

2. Welches Kind profitiert vom postiktalen oder vom Intervall-EEG?

Kommt ein Kind postiktal in die Klinik, wird es in aller Regel zum EEG angemeldet. Eine Evidenz gibt es für diese Maßnahme allerdings nicht, betonte der Neuropädiater. Bereits 1996 hat die American Academy of Pediatrics klargestellt, dass ein Routine-EEG bei einem einfachen Fieberkrampf überflüssig ist, diese Auffassung haben die US-Experten zuletzt noch 2008 wiederholt.

Auch beim komplizierten Fieberkrampf gilt der Stellenwert des EEG als nicht gesichert. Bei seiner Medline-Recherche konnte Prof. Aksu nur eine einzige relevante Publikation zu dem Thema finden. In dieser retrospektiven Studie wurden 33 Patienten im mittleren Alter von 17,8 Monaten mit komplexen Fieberkrämpfen untersucht. Alle waren neurologisch unauffällig und wiesen ein normales postiktales Schlaf-EEG auf.


Das akut abgeleitete EEG nach einem Fieberkrampf hat also keinerlei Bedeutung für die Diagnose oder die Therapie. Ein Intervall-EEG liefert hingegen häufiger auffällige Befunde, wenn eine familiäre Fieberkrampfneigung, komplizierte Fieberkrämpfe oder neurologische Symptome vorliegen. Eine sichere Aussage zum Wiederholungs- oder Epilepsierisiko erlaubt es allerdings nicht. Der einzige Grund im Intervall ein EEG abzuleiten sei, die Eltern zu beruhigen, erklärte Prof. Aksu.

3. Was weiß man über das Wiederholungsrisiko und die Risikofaktoren für Fieberkrampfrezidive?

Kohortenstudien zufolge kommt es in etwa jedem dritten Fall (34 %) zu einem ersten Rezidiv. In etwa 15 % ist mit einem zweiten und in ca. 5 % auch mit einem dritten Rezidiv zu rechnen. Als Risikofaktoren für ein Fieberkrampfrezidiv gelten:

  • Alter beim ersten Anfall < 18 Monate; ist das Kind noch kein Jahr alt, liegt einer Studie zufolge die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv bei 50 %
  • positive Familienanamnese für Fieberkrämpfe (Rezidivwahrscheinlichkeit 50 %)
  • geringes Fieber max. 38,5 °C gleich nach dem Anfall
  • kurzes Intervall (< 1 h) zwischen Fieberbeginn und Anfall (Rezidiv­wahrscheinlichkeit 46 %)

Keine Risikofaktoren sind dagegen die Komplexität des ersten Anfalls, die familiäre Belastung für Epilepsie und neurologische Defizite.

4. Welchen Effekt hat die prophylaktische Antipyrese?

Die prophylaktische Gabe von Antipyretika kann das Befinden des kleinen Patienten bessern, aber keinen Fieberkrampf verhindern. Schon in den 1990er Jahren wurde dies in Studien für Paracetamol und Ibuprofen gezeigt, berichtete Prof. Aksu. Dennoch sei die Zäpfchen-Prophylaxe ab 38,5 °C immer noch Usus.

5. Ist die intermittierende Fieberkrampfprophylaxe mit Diazepam sinnvoll?

Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Bereits 1993 gab es eine randomisierte Studie, die zeigen konnte, dass die Diazepam-Prophylaxe wirksam ist (2006 wurde dies in einer weiteren Arbeit bestätigt). Im Vergleich zu Placebo kam es durch orales Diazepam (0,33 mg/kg KG/8 h) zu einer Reduktion der Fieberkrampfrate um 44 %. 39 % der Kinder entwickelten jedoch erhebliche Nebenwirkungen wie Ataxie, Lethargie oder Agitiertheit.


Ganz klar, dass sich die Gegner der Diazepam-Propylaxe auf diese unerwünschten Wirkungen konzentrieren, die Befürworter aber mit dem Benefit argumentieren. Prof. Aksu plädierte für einen Kompromiss: Er empfiehlt den Einsatz der intermittierenden oralen Diazepamgabe für maximal zwei Tage bei massiver Angst der Eltern, wenn ihre Kinder unter häufigen oder komplizierten  Fieberkrämpfen leiden.

6. Sollte man bei Kindern eine Rezidivprophylaxe mit einer antikonvulsiven Dauermedikation einleiten?

Nein, eine solche Therapie bringt keine Vorteile, im Gegenteil. Ihre gravierenden Nebenwirkungen – Hyperaktivität, Verhaltensstörungen, Störungen der Kognition, Hepatotoxizität u.a. – stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen bei prognostisch günstigen Fieberkrämpfen, so der Experte. Auch senkt die Prophylaxe mit Valproinsäure oder Phenobarbital nicht das Risiko einer späteren Epilepsie.

7. Wie groß ist überhaupt das Risiko für Fieberkrampf-Kinder eine Epilepsie zu entwickeln?

Nach einem einfachen Fieberkrampf ist das Risiko für eine Epilepsie mit 1-2,6 % im Vergleich zur Normalbevölkerung (0,5-1 %) nur gering erhöht und zu vernachlässigen. Als Risikofaktoren gelten:

  • Komplexe Fieberkrämpfe
  • Familiäre Epilepsiebelastung
  • Kurzes Intervall zwischen Anfall und Fieberbeginn
  • Neurologische Defizite im Verlauf

Demgegenüber gelten familiäre Fieberkrämpfe, das Alter sowie die Höhe des Fiebers beim ersten Fieberkrampf nicht als Gefährdungsfaktoren.

Vortrag auf der 107. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in Bielefeld 2011

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