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Gastroparese als OP-Risiko

Um perioperative Komplikationen zu vermeiden, evaluieren Anästhesist*innen im Vorfeld geplanter Operationen routinemäßig die Dauermedikation ihrer Patient*innen – durch den verstärkten Einsatz sind auch GLP1-RA in den Fokus gerückt. Im Mai 2024 warnte die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) vor perioperativen Risiken im Zusammenhang mit der Einnahme dieser Inkretinmimetika.
Fachgesellschaften warnen vor perioperativen Risiken
Denn GLP1-RA können die Magenentleerung verzögern und damit das Risiko einer Aspiration von Mageninhalt während einer Narkose sowie von Aspirationspneumonien erhöhen – selbst wenn die empfohlenen Nüchternzeiten eingehalten wurden. In einer gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) erarbeiteten Empfehlung (s. Kasten) erklärte die DGAI, trotz der „bisher spärlichen Datenlage“ schließe man sich der Einschätzung der amerikanischen Fachgesellschaft an. Diese hatte mit Blick auf Fallberichte bereits im Juni 2023 ein Konsensus-Statement zum präoperativen Aussetzen von GLP1-RA veröffentlicht.
Das Absetzen von GLP1-RA kann weitreichende Folgen haben
In Diabetespraxen scheint das Thema bislang noch keine allzu große Rolle zu spielen. Einzelne befragte Diabetolog*innen berichten, das Aussetzen von GLP1-RA vor Operationen spiele derzeit keine Rolle in der täglichen Routine bzw. werde nur selten an sie herangetragen. Doch mit dem unfreiwilligen Pausieren der Medikation infolge von Lieferschwierigkeiten hat man Erfahrung. Und die zeigt: „Die Stoffwechselreaktion darauf kann mild – kaum oder nur geringer Blutzuckeranstieg – bis sehr ausgeprägt sein, sodass andere Medikamente zur Überbrückung angesetzt werden müssen“, berichtet etwa Dr. Norbert Demandt vom Diabetologikum Kiel.
Sein Kollege Dr. Hansjörg Mühlen vom Diabetologikum Duisburg hat beobachtet, dass meist sowohl HbA1c-Wert als auch Gewicht ansteigen. „Den alten Zustand wiederherzustellen, dauert meist ca. vier Wochen.“ In Einzelfällen lasse sich die bessere Stoffwechsellage nach Ende der Zwangspause auch nicht mehr erreichen, „als wenn der Körper durch das häufige An- und Absetzen eine Resistenz entwickelt“. Für ihn stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ausreichend große Evidenz für höhere OP-Risiken im Zusammenhang mit der Einnahme von GLP1-RA gibt: „Bevor man so stark in den Stoffwechsel eingreift, sollte man erst einmal untersuchen, ob es überhaupt ein Problem gibt.“
Zentrale Aussagen der DGAI-Empfehlung4
[…] Basierend auf Fallberichten besteht derzeit die Überlegung, dass die ununterbrochene Einnahme von GLP1-RA mit einem erhöhten Risiko für eine Regurgitation von Mageninhalt und pulmonale Aspiration im Rahmen einer Allgemeinanästhesie oder einer Analgosedierung assoziiert sein könnte. […] Bei elektiven Eingriffen sollte die Therapie mit einem täglich eingenommenen GLP1-RA am OP-Tag unterbrochen werden. Bei GLP1-RA, die nur einmal pro Woche verabreicht werden, sollte der letzte Applikationszeitpunkt des Medikamentes eine Woche vor der geplanten Operation liegen. Diese Zeiträume sind unabhängig von der Indikation (Typ-2-Diabetes, Gewichtsreduktion) mit einem GLP1-RA zu beachten.
Dr. Mühlen gibt außerdem zu bedenken, dass es zu Übelkeit und Erbrechen vor allem zu Beginn einer GLP1-RA-Therapie kommt, später hingegen meist nicht mehr. „Ist dann überhaupt die Magenentleerung noch so lange verzögert, dass nach zwölf Stunden Nahrungskarenz noch Mageninhalt vorhanden ist?“, fragt er. Ähnliche Überlegungen stellt Dr. Demandt an. Zumindest seien ihm keine Kommentare von Gastroenterolog*innen bekannt, dass Gastroskopien unter GLP1-RA nicht durchgeführt werden sollen, weil noch Speisereste im Magen nachzuweisen seien.
Tatsächlich melden sich seit Erscheinen der anästhesiologischen Empfehlungen zunehmend auch Expert*innen aus der Gastroenterologie zu Wort, die sich für ein deutlich differenzierteres Vorgehen aussprechen. So hält die amerikanische Fachgesellschaft (AGA) es generell für unkritisch, auch bei Patient*innen, die weiterhin GLP1-RA einnehmen, endoskopische Prozeduren durchzuführen – sofern sie keine Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Dyspepsie oder Blähungen aufweisen. Beim Vorliegen dieser Symptome, die auf eine verzögerte Magenentleerung hinweisen, empfehlen sie eine transabdominale Ultraschalluntersuchung.1
Müsste nicht auf eine autonome Neuropathie gescreent werden?
Ähnlich sieht es auch der Diabetologe und Gastroenterologe Professor Dr. Michael Nauck vom Katholischen Klinikum Bochum. Ihm kommt in der aktuellen Debatte ein weiterer Aspekt zu kurz: „Denn eine verzögerte Magenentleerung ist ja auch typisch für einen langjährigen Diabetes mit autonomer Neuropathie.“ Wenn man befürchte, dass der Magen vor einer OP nicht ganz leer ist, dann müsste man Patient*innen routinehaft auch auf autonome Neuropathie bzw. Gastroparese screenen – unabhängig von der Einnahme von GLP1-RA. „Doch die Magenentleerungsgeschwindigkeit wird nie routinehaft erhoben.“
Prof. Nauck bezweifelt deshalb, dass Empfehlungen wie die der DGAI das Problem gänzlich erfassen: „Wenn man den Großteil der Patienten sowieso übersieht, wird auch eine Maßnahme wie das Aussetzen von GLP1-RA nicht viel bringen.“ Davon abgesehen geht er – wie Dr. Mühlen – davon aus, dass eine verzögerte Magenentleerung vor allem diejenigen betrifft, die noch nicht allzu lange GLP1-RA einnehmen: „Relativ früh in der Therapie, etwa binnen eines halben Jahres, setzt eine Tachyphylaxie ein“, berichtet er mit Blick auf die Studienlage.2 „Folgt man dieser Überlegung, wäre das Aussetzen vor einer OP nur bei denjenigen sinnvoll, die noch relativ kurz in Behandlung sind.“
Medikamente mehr als einen Monat lang absetzen?
Eine Behandlung mit einer Substanz wie Exenatid könne man sicherlich problemlos für 48 Stunden pausieren. Auch das Aussetzen von Liraglutid für rund fünf Tage werde keinen allzu großen Schaden anrichten, erläutert Prof. Nauck. „Doch die wöchentlichen Inkretinmimetika wie Semaglutid oder Tirzepatid werden in Konzentrationen verabreicht, die um Faktor 10 höher sind als die physiologische Konzentration von GLP1. Um von einem zehnfach erhöhten Spiegel wieder auf null zu kommen, müsste man das Medikament eigentlich mehr als einen Monat aussetzen.“ Bei einer derart langen Pause aber brauche man eine Strategie, um die Glukosewerte auch ohne GLP1-RA in Schach zu halten und Hyperglykämien zu vermeiden. Diese sind schließlich ihrerseits ein unabhängiges Risiko für peri- und postoperative Komplikationen – und im Übrigen auch für eine abermals verzögerte Magenentleerung.
Bei der DGAI sieht man dennoch keinen Konflikt: „Es ist nicht das Ziel der Empfehlung, die beiden Risiken gegeneinander abzuwägen. Im Rahmen einer Risikoreduktion sollen sowohl die Aspiration als auch die Hyperglykämie perioperativ vermieden werden. Dies kann durch eine perioperative Pause des Medikamentes und engmaschige Blutzuckerkontrolle erfolgen“, teilte der korrespondierende Autor der Empfehlung, Professor Dr. Christian Zöllner von der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, auf Anfrage mit. Das Aussetzen von Antidiabetika zur Reduktion perioperativer Risiken sei ein seit vielen Jahren etabliertes Verfahren. „Wir sind überzeugt, dass dies auch bei dieser neuen Substanzklasse der GLP1-RA gelingen kann.“
Empfehlungen sind in Arbeit – mit diabetologischer Expertise
Mit engmaschigen Blutzuckerkontrollen allein lassen sich Hyperglykämien bekanntlich nicht abwenden. Prof. Nauck hält eine vorübergehende Insulinbehandlung zwar grundsätzlich für eine Option, „doch bis man die geeignete Dosierung gefunden hat, kann es eine Weile dauern, da kommt man schnell in Teufels Küche“. In den OP-Einrichtungen sei man sicherlich bemüht, im Einzelfall eine gute Lösung zu finden. „Aber man kann schon bezweifeln, dass überall lückenlos diabetologische Konsile in hoher Qualität zur Verfügung stehen.“
Für ihn ist das Pausieren einmal wöchentlich zu verabreichender GLP1-RA vor Operationen daher keine Option: „Ich verstehe natürlich, dass jemand von der Sorge um die Patienten getragen ist und etwas tun möchte, um sie vor Komplikationen zu schützen. Dennoch widerspreche ich da ganz klar der Empfehlung der DGAI.“ An deren Erarbeitung war übrigens lediglich ein DGIM-Vertreter beteiligt, ein Internist mit Schwerpunkt Kardiologie. Prof. Nauck hätte sich gewünscht, dass mehr explizit diabetologische und gastroenterologische Expertise in die DGAI-Empfehlung eingeflossen wäre. Zusammen mit einer hochrangigen internationalen Arbeitsgruppe hat er nun ein Review mit eigenen Empfehlungen erarbeitet. „Wir haben dafür die Faktenlage und verfügbare Literatur gesichtet und sind zuversichtlich, dass es in absehbarer Zeit publiziert wird.“
Literatur:
1. Hashash JG et al. Clin Gastroenterol Hepatol 2024; 22: 705-707; doi: 10.1016/j.cgh.2023.11.002
2. Quast DR et al. Diabetes Care 2020; 43:2137-2145; doi: 10.2337/dc20-0720
3. Jalleh RY et al., erscheint demnächst in J Clin Endocrinol Metab
4. Zöllner C et al. Anästh Intensivmed 2024; 65: 240-270; doi: 10.19224/ai2024.240
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