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Palliativmedizin muss auch seelische Belastungen im Blick haben

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste degenerative Motoneuronerkrankung beim Erwachsenen. Sie hat eine Inzidenz von 2/100.000 Einwohner/Jahr und eine Prävalenz von 6–8/100.000, berichtete Dr. Christoph Gerhard von der Niederrheinischen Akademie für medizinische Fort- und Weiterbildung in Voerde. Bei der ALS sind das 1. und 2. Motoneuron gleichzeitig betroffen, d.h., motorische Nerven in Gehirn und Rückenmark gehen ebenso zugrunde wie die Nervenfasern der Muskeln.
Die Schädigung des 1. Motoneurons verursacht ähnliche Symptome wie ein Schlaganfall: lebhafte Reflexe, Pyramidenbahnzeichen, Spastik oder pathologisches Lachen und Weinen. Die Läsionen am 2. Motoneuron verursachen ähnliche Ausfälle wie eine diabetische Neuropathie: Muskelabbau, -schwäche, -krämpfe und -zuckungen. Die ALS macht sich meist zunächst an den Extremitäten mit einer hand- oder fußbetonten Schwäche bemerkbar, die dann nach proximal fortschreitet. Daneben gibt es eine bulbäre Form, gekennzeichnet durch Sprach- und Schluckstörungen.
Die Erkrankung ist unheilbar, die mittlere Überlebenszeit liegt bei drei Jahren. Jeder Zehnte hat noch zehn Jahre oder länger. Das Neuroprotektivum Riluzol verzögert den Untergang der Nervenfasern etwas und verlängert die Lebenszeit um rund drei Monate. Generell wird den Patienten eine schlechte Lebensqualität zugeschrieben. Laut Dr. Gerhard stimmt das nicht unbedingt. Dennoch sollte praktisch mit Diagnosestellung idealerweise die palliative Versorgung einsetzen. Zu ihr gehören die symptomatische Behandlung, eine psychologische Begleitung, das Advanced Care Planning mit konkreten Entscheidungen für das Lebensende sowie die Sterbe- und Trauerbegleitung.
Opioide gegen die Dyspnoe, Benzodiazepine bei Angst
Im Fokus der Behandlung stehen die Beschwerden an den Atemwegen und beim Schlucken. Bestandteile der Hustentherapie sind Sekretolytika, Atemtherapie und mechanische Hustenassistenz. Medikamente gegen die Schleimproduktion sollten vorsichtig dosiert werden. Bei der Dyspnoe haben Opioide den wohl größten Stellenwert. Dr. Gerhard bezeichnete sie in diesem Zusammenhang als Gamechanger. Gegebenenfalls kommen zusätzlich Lorazepam oder Midazolam gegen Angst ins Spiel. Sauerstoff hat seiner Aussage nach nur einen Placeboeffekt.
Gegen die Pseudohypersalivation helfen Scopolamin, Butylscopolamin oder Glykopyrrolat, alternativ Amitriptylin oder Atropin. Laut Dr. Gerhard ist es aber viel effektiver, alle 3–6 Monate Botulinumtoxin in die Speicheldrüsen zu injizieren. Was Schluckstörungen betrifft, riet der Kollege dazu, früh über eine perkutane Ernährungssonde aufzuklären. Denn bei rechtzeitiger Anlage gibt es weniger Komplikationen. Außerdem erzielt man damit langfristig eine Besserung sowohl der Lebensqualität als auch der Überlebensrate. Sprechstörungen werden mit Logopädie und Sprachcomputer angegangen, pathologisches Lachen und Weinen mit Amitriptylin, eventuell auch mit SSRI oder Mirtazapin.
Multiple Sklerose in der Palliativmedizin
Die Multiple Sklerose ist eine Krankheit, die eine Palliativversorgung über lange Zeit bedarf, sagte Dr. Gerhard. Anlass für entsprechende Gespräche sind in der Frühphase ein maligner Verlauf, Hospitalisierung oder Eskalation der Therapie. Später können Progression, Verlust der Fahrtauglichkeit oder Probleme am Arbeitsplatz einen Anlass bieten. In der späten Krankheitsphase geben zum Beispiel Dysphagie, rezidivierende Infekte, Demenz oder die Aufnahme in ein Heim den Anstoß für solch ein Gespräch.
Eine nächtliche Hypoventilation zieht viele mögliche Symptome nach sich, z.B. morgendliche Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Leistungsschwäche oder Konzentrationsstörungen. Der erschwerten Atmung wirkt man mit einer nächtlichen Maskentherapie entgegen. Schmerzen bei ALS sind in der Regel somatisch-nozizeptiv, nicht neuropathisch bedingt. Zur Linderung werden Medikamente der WHO-Stufe 1 plus Opioide empfohlen, Koanalgetika sind nicht nötig.
Viele Patienten fürchten zu ersticken. Diese Angst ist laut Dr. Gerhard unbegründet. Der Tod tritt vielmehr sehr friedlich durch eine Art CO2-Narkose im Zuge der Ateminsuffizienz ein. Darüber sollte man frühzeitig aufklären. Zudem riet er dazu, rechtzeitig ein Gespräch über den Sterbeverlauf – mit oder ohne Beatmung – zu führen.
Über somatoforme Schmerzstörungen beim Palliativpatienten berichtete Dr. Silvia Maurer vom DGS* Schmerzzentrum in Bad Bergzabern. Sie präsentierte den Fall einer 54-Jährigen mit metastasiertem kleinzelligen Bronchialkarzinom und Thoraxschmerzen. Die Schmerzen hatten auf nichts, inklusive Opioide und Cannabis, angesprochen bzw. die Therapie war wegen Nebenwirkungen abgebrochen worden. Nun kam die Frau mit dem Wunsch nach Akupunktur auf die Ärzte zu.
Bei dem Krankheitsbild schien es Dr. Maurer fraglich, ob sich mit Akupunktur etwas erreichen ließe. Im Gespräch zeigte sich die Patientin freundlich und zugewandt, es ergaben sich keine Hinweise auf eine Angststörung oder eine Depression. Im Anamnesegespräch nach Kriterien der traditionellen chinesischen Medizin, in dem ein Schwerpunkt auf den Emotionen und psychischen Belastungen des Patienten liegt, ließ sich dann aber eine extrem unterdrückte Wut erkennen. Im späteren Verlauf zeigte sich, dass die Frau u.a. durch die Versorgung von Angehörigen und die Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Leistungen stark gefordert war, was sich in somatoformen Beschwerden äußerte.
Mit derartigen Symptomen rechnet man in der palliativen Situation nicht, sie werden daher auch nur selten richtig gedeutet, betonte die Referentin. Funktionelle Störungen haben bei Krebspatienten aber immerhin eine Punktprävalenz von 2,7 %, wobei Stress ein häufiger Auslöser ist. Und eine unheilbare Erkrankung macht ohne Frage Stress, so Dr. Maurer. Als Risikofaktoren nannte sie:
- Schmerzen
- hohe körperliche Symptomlast
- Fatigue
- jüngeres Alter
- Tumoren mit schlechter Überlebensprognose
- Fortschreiten der Erkrankung
Die Patienten haben in vielen Bereichen das Bedürfnis nach Unterstützung. Das gilt etwa für den Umgang mit Ängsten, Depression und Erschöpfung, bei Sorgen um Angehörige und Freunde oder bei Problemen mit ihrer Sexualität. Vielen fällt es aber schwer, über diese Dinge zu sprechen, auch nach intensivem Nachfragen.
Die seelische Pein der Krebspatienten messen
Die Referentin empfahl ein vom National Comprehensive Cancer Network entwickeltes Screeninginstrument, mit dem sich der psychosoziale Druck, der auf Tumorpatienten liegt, erfassen lässt. Mit diesem Belastungsthermometer, wie Dr. Maurer das Tool nannte, können die Kranken auf einer Skala von 1 bis 10 ihr Befinden einschätzen. Dazu kreuzen sie an, in welchen Bereichen (z.B. körperliche Symptome, emotionaler Zustand, Familie) sie sich eingeschränkt fühlen. Der Cut-off liegt bei 5. Höhere Werte weisen auf eine deutliche Belastung und den Bedarf nach Unterstützung hin.
* Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin
Quelle: Kongressbericht Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2024
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