„Krankheitszustände ganzheitlich beschreiben – die neue Challenge!“

Angela Monecke

Die diabetische Retinopathie viel früher
erkennen – mittels KI. Die diabetische Retinopathie viel früher erkennen – mittels KI. © ASAD – stock.adobe.com

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zur automatischen Diagnose schwerer Augenerkrankungen ist nicht neu, die KI wird aber immer präziser. Eine diabetische Retinopathie lässt sich heute automatisiert im Scan eines Auges erkennen – dies „schon in einem sehr frühen Stadium, wenn Therapien noch gut anschlagen“, weiß Professor Dr. Dr. Fabian Theis vom DZD-Partner Helmholtz Munich. Ein Update. 

Sie haben das Foto einer Netzhaut als Maßstab für Ihre Arbeit genommen und mit Ihrem Team einen neuen Algorithmus entwickelt, der das Potenzial der Diagnose noch gezielter nutzen und so z. B. Menschen mit Diabetes das Augenlicht retten kann. Wie fühlt sich das an: Schon nach Forschungsalltag – oder ist es noch echte Faszination?

Prof. Theis: Ich finde es sehr spannend, dass zahlreiche theoretische Arbeiten heute in die Anwendung kommen und somit klare Einsätze finden. Viele unserer vorhergesagten Perspektiven sind inzwischen Realität – vor allem in der Forschung und in der Diagnostik. 

Für das besagte Netzhautfoto bedeutet das: Wenn eine KI eine solche Aufnahme analysieren kann, erkennt sie auch schwere Augenkrankheiten vollautomatisch. Damit gewinnen Kliniken und Praxen bei der Dia­gnose und Behandlung von Augenerkrankungen wie der diabetischen Retinopathie wertvolle Zeit und können viele Menschen vor dem Verlust ihrer Sehkraft bewahren. Das ist schon sehr schön.

Wie genau funktioniert die vollautomatische Analyse schwerer Augenkrankheiten, der ja riesige Datenmengen zugrunde liegen müssen: Hunderte Aufnahmen von Netzhäuten – mit gesunden ebenso wie mit erkrankten Netzhäuten in verschiedenen Stadien?

Prof. Theis: In den letzten Jahren gab es eine ganze Reihe von Fortschritten bei der Künstlichen Intelligenz, bei Machine- und Deep-Learning-Methoden. Damit können wir als Forschende heute in Bereiche vordringen, die uns noch vor wenigen Jahren verschlossen blieben. Vor 12 bis 14 Jahren war es z. B. erstmals möglich, Objekte in Bildern digital zu erkennen. Zuvor war die Bildanalyse sehr kompliziert. Der Computer sieht ja kein Bild, sondern nur eine Reihe von Zahlen.

Der große Breakthrough war also der Sprung vom klassischen Machine- zum Deep-Learning mit der Einführung sogenannter künstlicher neuronaler Netze, die großskalig auf der Grundlage großer Datenmengen lernen. Dazu zählen auch die so wichtigen Filterschritte, die man für alles Weitere benötigt. Man muss sich hier geschichtete Module vorstellen, die der Reihe nach die Daten auswerten und ein immer abstrakteres Bild entwerfen, z. B. eine bestimmte Klassifikation beim Auge – von gesund bis krank.

Mittlerweile gibt es auch eine ganze Reihe neuer Erweiterungen. Hier liegt unsere Hoffnung auf großen gelabelten Daten, mit denen man Tausende von Bildern sieht und die molekularen Mechanismen von Krankheiten immer spezifischer auswerten kann, um sie künftig auch schon mit nur kleinen, gelabelten Datensätzen vorherzusagen.

Woher kommen die Daten, mit denen Sie arbeiten?

Prof. Theis: Für unser erstes Paper zur Retinopathie haben wir eine Analyse aus einem Internet-Datensatz vorgenommen – viele Forschende aus der ganzen Welt haben bereits ihre ersten Arbeiten und Daten ins Netz gestellt. Mittlerweile ist es auch Usus in der KI-Forschung, dass man, sobald man einen neuen Algorithmus entwickelt, diesen mit sogenannten Standard-Benchmark-Daten vergleicht.

Wir investieren aber auch sehr viel. Denn für bessere, konkretere, regional spezifischere Daten ist gerade in Deutschland die Verfügbarkeit sehr komplex. Hier arbeiten wir mit der LMU Augenklinik, genauer mit dessen Direktor Professor Dr. Siegfried Priglinger, zusammen. Er hat in seinem Institut schon früh die Digitalisierung vorangetrieben und kann auf einen großen Entwicklungsvorsprung bauen.

Bei der altersbedingten Makuladegeneration und der diabetischen Retinopathie konnten Sie schon erste Erfolge erzielen – zwei Netzhauterkrankungen, die schlimmstenfalls zur Erblindung führen. Wo genau konnten Sie hier punkten?

Prof. Theis: Wir haben bereits eine ganze Reihe von Follow-up-Arbeiten zu diesen Krankheitsbildern durchgeführt, um noch genauere Daten zu erhalten. Und um zu sehen: Da gibt es bei dem Patienten oder der Patientin ein Erblindungsrisiko oder eben keins. Hier konnten wir zeigen, dass wir viel besser performen als die Vergleichsgruppe mit den Ärzten.

KI trainiert richtige Diagnose anhand Hunderter von Bildern

Wie kann man Menschen das Augenlicht retten? Das ist eine der zentralen Fragen von Prof. Dr. Dr. Fabian Theis und seinem Team. Seine Methoden stehen an der Spitze des technisch Machbaren, heißt es seitens Helmholtz Munich. Die Technik im Augenbereich funktioniert ähnlich wie auf anderem Gebiet, wo KI in der Medizin heute eingesetzt wird. 

Hunderte Aufnahmen von Netzhäuten des menschlichen Auges werden in einen Rechner eingespeist – von gesund bis krank und in verschiedenen Stadien. Die KI wird nun darauf trainiert, die Unterschiede zu erkennen. Soll sie danach weitere Aufnahmen von Netzhäuten analysieren, kann sie bereits mit großer Zuverlässigkeit eine Diagnose stellen.

Wann rechnen Sie damit, dass Ihr Algorithmus in den klinischen Einsatz kommt, etwa bei der OCT-Untersuchung, damit Augenärzt*innen Untersuchungsergebnisse schneller richtig interpretieren können?

Prof. Theis: Wenn man diese Methode wirklich in die Versorgung bringen will, sind erst mal alle möglichen Zusatzschritte nötig, wie die Entwicklung einer entsprechenden Software. Das ist aber nicht Aufgabe unserer Arbeitsgruppe, sondern die Schnittstelle hin zu den Start-ups. Es gibt schon eine Reihe von Firmen, die Ähnliches anbieten. Das halte ich innerhalb von klinischen Studien für spannend. Generell ist die Bildgebung ein großes Thema für den Einsatz von KI.

In Ihrem Team arbeiten Mediziner*innen, Informatiker*innen, Physiker*innen und Biolog*innen zusammen. Welchen technischen Herausforderungen stehen Sie bei der Weiterentwicklung Ihres Algorithmus noch gegenüber?

Prof. Theis: Spannend ist, dass eine Modalität, für die wir typischerweise die Analyse entwickeln, nicht ausreicht. Der Arzt oder die Ärztin schaut ja nicht nur auf das eine OCT-Label oder das Röntgenbild, sondern z. B. auch, welche Medikamente die Patient*innen einnehmen. Diese multimodale Information miteinzubauen, ist das Interessante: Wie geht man damit um, wenn man noch viele andere Informationen über den Patienten oder die Patientin hat und gemeinschaftlich eine Vorhersage machen möchte? Wie kann man mit der multimodalen Analyse, mit diesem Gesamtbild und den verschiedenen Kanälen, bessere Entscheidungen treffen? 

Wir Menschen brauchen immer Kategorien, wie den Bluthochdruck oder die Stufeneinteilung beim Krebs, um über diese Krankheiten reden zu können. Dieses komplexe Abhängigkeitsmuster, das uns ausmacht, und wie wir uns zwischen verschiedenen Entitäten bewegen, zwischen gesund und krank, und wie man diesen Zustand wieder nach gesund verschieben kann – darum geht es uns. Ein Algorithmus kann das – und hier ist die Hoffnung, eine ganzheitliche Beschreibung von Krankheitszuständen zu gewinnen, die über eine bestimmte Sorte oder einen Typus von Krankheit hinausgeht. Das ist unsere große, neue Challenge. Wir versuchen, auf zellulärer Ebene Krankheitsprozesse zu beschreiben, die sich dann ganzheitlich auswirken. Es geht darum, den Phänotyp zu finden, nach dem man suchen muss.


Literatur:

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Die diabetische Retinopathie viel früher
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