Psychische Begleitstörungen bei Patienten mit Tourette-Syndrom

Manuela Arand, Foto: thinkstock

Beim Tourette-Syndrom sollten psychische Begleiterkrankungen unbedingt beachtet und eventuell sogar vorrangig therapiert werden. Für den betroffenen Patienten stellen sie nämlich häufig das Hauptproblem dar.

Neun von zehn Tourette-Patienten leiden unter komorbiden Störungen: Bei Kindern dominieren die ADHS und Zwangsstörungen, bei Erwachsenen Zwänge und Depressionen. Insgesamt findet sich bei etwa 60 % aller Tourette-Kranken eine ADHS, die damit die insgesamt häufigste Komorbidität darstellt. Weitere mögliche Begleiterscheinungen sind u.a. Sucht, Störungen der Impulskontrolle, der Persönlichkeit oder des Sozialverhaltens.

Nach ihnen muss aktiv gefahndet werden, und wenn man eine gefunden hat, darf man sich nicht damit zufrieden geben. Nicht selten weist ein Patient gleich mehrere auf, betonte Professor Dr. Kirsten Müller-Vahl von der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover.

Therapie des Tourette-Syndroms beginnt mit Psychoedukation

Erster Schritt nach der Diagnose ist immer die Psychoedukation. „Ich gebe dem Patienten erst einmal die Chance, die Diagnose sacken zu lassen“, erklärte die Kollegin. Im zweiten Schritt folgt dann die Psychotherapie.


Nur zwei verhaltenstherapeutische Verfahren haben sich bewährt: an erster Stelle das Habit Reversal Training, das am besten untersucht ist, und das Exposure and Response Prevention Training. Alles andere ist nicht gut untersucht oder nachweislich unwirksam. Die Pharmakotherapie folgt beim Tourette-Syndrom erst im dritten Schritt.


Prinzipiell steht die Störung im Zentrum der Behandlung, die für den Patienten das Hauptproblem darstellt. Oft sind das nicht die Tics selbst, sondern begleitende Störungen. Sie sollten so therapiert werden, als hätte der Patient keine Tics – sprich: ohne Rücksicht darauf, dass die Behandlung die Tics möglicherweise verstärken kann.

ADHS-Therapie auch für Patienten mit Tourette-Syndrom

Allerdings ist dies gar nicht zwangsläufig der Fall, wie das Beispiel ADHS zeigt. Methylphenidat als meistverordnetes Medikament verstärkt Tics nicht wesentlich und vor allem nicht auf Dauer, wie Prof. Müller-Vahl berichtete:

„Nach vier bis sechs Wochen sind die Tics wieder auf Ausgangsniveau.“ Atomoxetin wird sogar nachgesagt, es könne ADHS und Tics günstig beeinflussen. Die Kollegin sieht das allerdings skeptisch: „Ich persönlich glaube nicht daran, so schön es wäre.“


Zur Behandlung des Tourette-Syndroms selbst ist in Deutschland ausschließlich Haloperidol zugelassen, es ist aber „nicht wirklich einsetzbar“, so Prof. Müller-Vahl. Recht gute Daten gibt es für Risperidon, dessen Einsatz aber durch  Müdigkeit und Gewichtszunahme limitiert werden kann. Auch andere Neuroleptika kommen prinzipiell infrage, sie werden in der Regel deutlich nie-
driger dosiert als bei Schizophrenie.

Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio beim Tourette-Syndrom?

„Wenn Neuroleptika nicht helfen, wird es schwierig“, sagte die Psych­iaterin. Es bleibt dann noch die tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio. Es gibt viele Fallberichte über gute Erfolge bei schweren, therapierefraktären Tics, aber wenig systematische Untersuchungen. Außerdem ist die genaue Zielstruktur für die Stimulation noch nicht definiert. Ein Vorteil der tiefen Hirnstimulation: Sie hilft auch gegen bestimmte Begleitstörungen, z. B. Depressionen. 


Zwischen Tic und Zwang unterscheiden

Ein Tourette-Syndrom wird immer dann diagnostiziert, wenn ein Patient motorische und vokale Tics aufweist: „Wenn jemand ständig blinzelt und einen Räusper-Tic hat, ist das schon Tourette“, erklärte Professor Dr. Veit Roessner von der Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dresden.

Die meisten Tics sind motorisch, häufig betreffen sie den Kopfbereich. Das auffälligste Tourette-Symptom – unkontrollierbare Schimpfkanonaden – ist eher selten. Weit unter 10 % der Patienten sind von solch einer Koprolalie oder einer Echolalie betroffen.


Seit Filmen wie „Vincent will Meer“ kennt auch die breite Öffentlichkeit das Tourette-Syndrom – das ist nicht immer von Vorteil. „Eltern fallen vom Stuhl, wenn wir Tourette sagen“, so Prof. Roessner. Die meisten beruhigen sich jedoch, wenn man ihnen klarmacht, dass die Tics in der Regel nicht sehr stark ausgeprägt sind und von selbst wieder verschwinden. Allerdings ist eine valide Prognose im Einzelfall kaum zu stellen.


Probleme kann die Differenzierung zwischen Tic und Zwangsstörung bereiten. Drei Kriterien können helfen:

  • Körper-Tics sind eher Zeichen einer Tic-Störung, während bei Zwangsstörungen Kopf-Tics vorherrschen.
  • Tics sind öffentlich und lassen sich schwer verbergen, während Zwangshandlungen oft verheimlicht werden.
  • Tics beschränken sich auf den betroffenen Patienten – Zwänge bestehen oft in komplexen Systemen, die die Umwelt miteinbeziehen.


Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Berlin 2011

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).