Schluss mit den vagen Distorsions-Diagnosen!

Dr. Carola Gessner, Foto: Svetlana Fedoseeva - fotolia

Schleudertrauma, ja oder nein? Bei der Beantwortung dieser Frage mussten Gutachter bislang meist im Trüben fischen. Ein neues Konzept schafft Klarheit.

HWS-Röntgen

Unbewusste Hab-Acht-Stellung beim HWS-Röntgen

Foto: thinkstock

Schleudertrauma mit Entschädigungsbegehren, das ist nach wie vor eine leidige Sache für Unfallopfer, Mediziner und Juristen. Oft findet die Begutachtung erst Jahre nach der Verkehrskollision statt.


Dem Hausarzt als Akut-Therapeuten stehen meist keine objektiven Erkenntnisse zur Unfallschwere zur Verfügung, sodass er sich auf die Angaben des Patienten verlassen muss.

Nutzlose Angaben in Arzt-Attesten

Häufig übernimmt auch ein Behandler vom anderen unkritisch Diagnosen, sodass sich Krankheitsbezeichnungen mitunter verselbstständigen. Das ergibt für den Gutachter letztlich ein undurchdringliches Dickicht, wie Dr. Michael N. Magin aus der Spezialpraxis für Orthopädie und Unfallchirurgie in München und Dipl. Ing. Christian Auer, Sachverständiger für Straßenverkehrsunfälle und Verkehrsmechanik in Haag es darstellen.


Obendrein tragen die Patienten ihrem Gutachter vielfach Aussagen vor – zum Unfallhergang und zu den Beschwerden –, die erheblich von der Aktenlage abweichen. Glück hat der Experte, der sein Urteil wenigstens auf eine, gut dokumentierte ärztliche Anamnese und Befunderhebung stützen kann (s. Kasten). Wenig hilfreich sind hingegen die unspezifischen Beschwerden, die sich häufig in Attesten finden wie:

  • Muskelbeschwerden paravertebral,
  • Übelkeit,
  • Kopfschmerzen,
  • endgradig schmerzhafte Bewegungseinschränkung,
  • Druckschmerz über Dornfortsätzen oder

  • Steilstellung der HWS im Röntgenbild.

Kein einziger dieser Befunde ist spezifisch für die HWS-Distorsion, betonen Dr. Magin und Dr. Auer.

Ärztliche Befunderhebung


  • Schilderungen des Patienten sollen möglichst wörtlich protokolliert werden.

  • Eingehende körperliche Untersuchung soll zeitnah erfolgen – inklusive neurologischer Diagnostik

  • Festzustellen und festzuhalten sind Faktoren, die zu erhöhter Vulnerabilität führen, wie schmächtige Muskulatur (Frauen mit ihren dünneren Hälsen tragen ein höheres Verletzungsrisiko als Männer), entzündliche/rheumatische Erkrankung mit HWS-Beteiligung oder Osteoporose

Kopf-Hals-Belastung lässt sich genau errechnen

Eine zuverlässigere Basis für das Schleudertrauma-Urteil gewährt hingegen ein biomechanisches Gutachten – und damit ist nicht der pure technische Befund der Geschwindigkeitsänderung bei Kolli­sion (∆v) gemeint. Einfließen müssen:

  • Kollisionstyp

  • Geschwindigkeitsänderung

  • Verzögerung/Beschleunigung des Fahrzeugs

  • Verzögerung/Beschleunigung an bestimmten Körperteilen

  • Sitzgeometrie und -qualität

Berücksichtigt wird zudem die individuelle Konstitution sowie individuelle Einflussfaktoren wie Erwartungshaltung, Halsumfang oder eine erhöhte Vulnerabilität.


Mithilfe eines „computerbasierten Mehrkörpersystems“ lässt sich recht gut abschätzen, wie stark Kopf und Hals eines Unfallopfers in Mitleidenschaft gezogen wurden. Im Unfallfahrzeug erfolgt zunächst ein Sitzversuch, um festzustellen wie die betreffende Person im Wagen saß.


Für die Computersimulation verwendet man Mehrkörpermodelle, wie die Experten erklären: Jedem Einzelkörper werden unterschiedlichen Eigenschaften (z.B. Geometrie, Masse, Elastiziät) zugeordnet. Dabei bildet der Insasse ein System, bei dem mehrere Einzelkörper über Gelenke miteinander verbunden sind. Als weitere Systeme nennen die Kollegen den Sitz oder auch den Fahrzeuginnenraum.


Über einen Satz von Differenzialgleichungen kann dann ein Computerprogramm Fakten liefern, die zwar keine exakte Reproduktion der konkreten Belas­tung im Kopf-Hals-Bereich, wohl aber eine valides Abschätzen ermöglichen. In Zusammenschau mit den medizinischen Befunden versucht man anschließend die entscheidenden Fragen zu beantworten:

  • Welcher Verletzungsmechanismus liegt vor?

  • War dieser Mechanismus grundsätzlich geeignet einen vorliegenden Befund zu verursachen?

  • War die Aufprallgewalt ausreichend groß für die konkret beklagte Verletzung?


Im anschließenden medizinischen Gutachten folgen die Angaben über die Zeiten vollständiger Arbeitsunfähigkeit. Zudem nimmt der Experte Stellung zu einer etwaigen Minderung der Erwerbsfähigkeit.


Bei leichtgradigen HWS-Distorsionen – definitionsgemäß ohne objektive Verletzungszeichen – kommt es maßgeblich darauf an, dass klinischer Befund und subjektive Beschwerden im Zeitverlauf gut dokumentiert sind. Das sollte der Hausarzt auch im Interesse seines Patienten berücksichtigen: Je später der erste Arztkontakt stattfand und je unspezifischer die vorgenommenen Untersuchungen waren, umso eher wird der Gutachter eine Verletzung als unwahrscheinlich bezeichnen.

Kollisions-Tempo alleine sagt nichts aus

Beschwerden, die sich über Wochen und Monate verstärken, ohne dass anfänglich relevante Symptome bestanden, lassen das Gutachten eher negativ ausfallen. Und auch bei Fällen, in denen der Unfall zwar „schwer genug“ war, aber dokumentierte Befunde fehlen, kann es sehr schwierig werden.


Selbst für die Diagnose einer leichten HWS-Distorsion gilt es, die Unfallschwere auf der Basis einer biomechanischen Analyse festzustellen, fordern die Experten. Die pure Kollisionsgeschwindigkeit als Urteilsgrundlage – das war die Methode von gestern. Dass es jeden Einzelfall genauer zu analysieren gilt, wurde mittlerweile sogar obergerichtlich festgestellt, berichten Dr. Magin und Dr. Auer. Damit seien die Erkenntnisse von Traumatologie und Verletzungsmechanik „weitestgehend in der Rechtsprechung angekommen“.


Quelle: M.N. Magin, C. Auer, Der Unfallchirurg 2014: 117: 263–273

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