Small Vessel Diseases als Ursache für Schlaganfall enttarnen

Manuela Arand

Koloriertes Kernspin­tomogramm eines 47 Jahre alten Patienten mit CADASIL. Koloriertes Kernspin­tomogramm eines 47 Jahre alten Patienten mit CADASIL. © Science Photo Library/ Zephyr

Erleidet ein junger Mensch einen Schlaganfall, läuten ganz automatisch die Alarmglocken. Dies gilt umso mehr, wenn auch in der Familie frühe Schlaganfälle bekannt sind. In manchen Fällen steckt eine monogenetische Small Vessel Disease hinter dem Geschehen. Die EAN widmet den Erkrankungen ein Konsensuspapier.

Small Vessel Diseases (SVD) treten gewöhnlich sporadisch auf, sind aber die häufigste monogenetische Schlaganfallursache, erklärte der britische Neurologe Professor Dr. Hugh Markus, Universität Cambridge.

Seit 1994 ist das NOTCH3-Gen bekannt, dessen Mutation für die zerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie verantwortlich ist. In den letzten Jahren haben die Forscher viele weitere Gene entdeckt, die ebenfalls monogenetische Small Vessel Diseases verursachen. Dieser Wissenszuwachs führt zwar dazu, dass immer mehr Patienten diagnostiziert und immer häufiger genetische Ursachen erkannt werden. Doch insgesamt ist die Diagnostik oft schwierig, die Therapie umso mehr.

Also hat die European Academy of Neurology eine Expertengruppe aus Genetikern, Neurologen und Patientenvertretern beauftragt, entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. Im März wurden das Konsensuspapier zunächst online veröffentlicht.1

SVD-Verdachtsmomente

Die Leitlinie gibt eine Übersicht über „Red Flags“, die den Verdacht auf eine monogenetische SVD lenken sollten.
  • einschlägige Familienanamnese
  • junges Erkrankungsalter
  • charakteristische Neuro-Bildgebungsbefunde (z. B. frontotemporale ­Läsionen bei CADASIL)
  • extrazerebrale und/oder systemische Begleitsymptome
  • typischer klinischer Phänotyp (z. B. Alopezie und Rückenprobleme bei CARASIL)

Generell empfehlen die Autoren, das erhöhte vaskuläre Risiko betroffener Patienten genau im Auge zu behalten und ihm mit Allgemeinmaßnahmen wie gesunder Ernährung, Rauchverzicht und körperlicher Aktivität entgegenzuwirken. Die Patienten sollten jährlich nachuntersucht werden, wobei Kernspintomographien ohne konkreten Anlass verzichtbar erscheinen.

Großes Spektrum, schwierige Diagnostik

Anhand von Fallbeispielen aus der eigenen Klinik erläuterte Prof. Markus die Inhalte der neuen Leitlinie. Die unten zusammengefassten Kasuistiken illustrieren das vielfältige Spektrum der Small Vessel Diseases und wie groß die Herausforderung ist, sie adäquat zu diagnostizieren und zu behandeln.

 

Fall 1: CADASIL als MS und

Demenz verkannt

 

Eine 54 Jahre alte Patientin stellte sich mit kognitiven Einbußen im Sinne verlangsamter Informationsverarbeitung und gestörter Exekutivfunktionen vor. Anamnestisch schilderte sie eine transiente Hemiparästhesie. Ihre Mutter leide an Alzheimer, ihre Schwester an MS, berichtete die Frau. Sie selbst werde wegen einer MS behandelt, nachdem ein MRT ausgedehnte Läsionen in der weißen Substanz gezeigt hätten, die das Corpus callosum einbezögen. Dieser Befund kommt bei MS häufig vor, erläuterte Prof. Markus. Ein erneut durchgeführtes MRT zeigte eine starke Beteiligung der vorderen Temporallappen – ein Phänomen, das mit einer Sensitivität von 91 % für die cerebrale autosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie (CADASIL) spricht. Seine Spezifität liegt bei 86 %. Der Befall des Corpus callosum passt durchaus ins Bild, auch bei CADASIL ist er nicht ungewöhnlich, so Prof. Markus. Im Nachhinein entpuppte sich auch die vermeintliche Alzheimererkrankung der Mutter als vaskuläre Demenz und die MS der Schwester als CADASIL. CADASIL führt zu rezidivierenden lakunären Hirninfarkten und ist bei weitem die häufigste Ursache hereditärer monogenetischer Small Vessel Diseases. Typischerweise leiden die Patienten an Migräne mit Aura und einer früh einsetzenden Demenz. CADASIL sollte bei MS-Verdacht immer als Differenzialdiagnose in Betracht gezogen werden, heißt es in der europäischen Leitlinie. Der Phänotyp ist deutlich vielfältiger als lange gedacht, erklärte Prof. Markus. Milde Symptome und ein höheres Lebensalter (> 70 Jahre) schließen eine CADASIL ebenso wenig aus wie eine (vermeintlich) negative Familienanamnese. Das Management sollte sich auf vier Kernpunkte konzentrieren. Konventionelle vaskuläre Risikofaktoren sind intensiv zu behandeln, weil sie sich bei CADASIL-Patienten besonders stark auf das Risiko auswirken. Dagegen gibt es derzeit keine Evidenz für den Nutzen einer antithrombotischen Therapie in der Primärprävention. Nach einem Schlaganfall wird sie empfohlen, doch orale Antikoagulanzien und duale Plättchenhemmung sollten wegen des erhöhten Risikos intrazerebraler Blutungen vermieden werden. Eine komorbide Migräne ist prophylaktisch zu behandeln, therapeutisch sind Triptane eine Option. Wenn es zum ischämischen Schlaganfall kommt, sollte keine Thrombolyse erfolgen, weil es sich wahrscheinlich nicht um ein thrombotisches Geschehen handelt. Als Ausnahme gelten sekundäre thrombotische Verschlüsse großer Arterien, doch die sind eine Rarität.

Fall 2: „Hüftprobleme” durch Hirninfarkt

Mit einer plötzlich aufgetretenen rechtsseitigen Hemiparese kam der 14-Jährige in die Klinik. Sechs Jahre zuvor hatte er bereits passager über eine Schwäche im rechten Bein geklagt, was „Hüftproblemen“ zugeschrieben wurde. Das Schädel-CT zeigte nun eine Einblutung links subkortikal, im MRT fanden sich Zeichen eines alten Hirninfarkts sowie ausgeprägte hyperintense Regionen in der weißen Substanz. Die Mutter wies ganz ähnliche Läsionen auf, war aber bis auf eine Migräne mit Aura asymptomatisch. Diagnostiziert wurde eine Mutation im COL4A2-Gen, das wie das benachbarte COL4A1 Bestandteile von Kollagen IV kodiert. Das resultierende Krankheitsspektrum ist enorm vielgestaltig und umfasst auf zerebraler Seite ischämische oder lakunäre Infarkte, (Mikro-)Blutungen und Aneurysmen, aber auch Krampfanfälle oder Entwicklungsverzögerungen. Unter anderem aus Tierversuchen ist bekannt, dass exogene Traumata das Risiko für Hirnblutungen und Schlaganfälle verschärfen. Daraus leiten die Leitlinienautoren die Empfehlung ab, Sportarten und Aktivitäten zu meiden, die gehäuft zu Schädeltraumata führen wie Boxen oder Fußballspielen. Schwangeren mit einer solchen Mutation sollte der Gynäkologe zum Kaiserschnitt raten. Plättchenhemmer, Antikoagulanzien oder Thrombolyse dürfen wegen des Blutungsrisikos nicht zum Einsatz kommen.

 

Fall 3: Mini-Schlaganfälle bei autosomal-dominanter CARASIL-Variante

 

Seit ihrem 40. Geburtstag erlitt die Patientin immer wieder „Mini-Schlaganfälle“, deren Folgen sie zunehmend spürte. Organisatorische Dinge fielen ihr schwer, Tests enthüllten kognitive Störungen. Vor allem die exekutiven Funktionen waren beeinträchtigt. Trotz auffälliger Familienanamnese auf mütterlicher Seite erschien der Fall lange Zeit schwierig. Doch dann bekam Prof. Markus die Möglichkeit zum Whole Genome Sequencing. Das MRT der mittlerweile 51-Jährigen sah zwar nach CADASIL aus, die Genanalyse ergab aber etwas anderes: eine Mutation im HTRA1-Gen wie sie für CARASIL, d.h. der Cerebralen autosomal-rezessiven Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie, typisch ist. Allerdings erwies sich die Frau als heterozygot für die Mutation. CARASIL verursacht schon in jungen Jahren lakunäre Infarkte mit vaskulärer Demenz und geht häufig mit nicht-neurologischen Begleitphänomenen einher, darunter Alopezie und Bandscheibendegeneration. Sie gilt als Rarität, die nur in Asien auftritt. In den letzten Jahren ist jedoch aus Europa und Japan ein ähnliches Krankheitsbild mit autosomal-dominantem Erbgang gemeldet worden. Es unterscheidet sich von CARASIL durch nur ein mutiertes HTRA1-Allel, das spätere Auftreten von Schlaganfällen und Demenz, den insgesamt leichteren Verlauf und das seltenere Vorkommen nicht-neurologischer Symptome. „Wir haben noch zu wenig Daten über diese Erkrankung, um spezifische Handlungsempfehlungen zu entwickeln“, so Prof. Markus. So bleibt nur, den allgemeinen Managementempfehlungen der Leitlinie zu folgen.

Quelle: 1. Mancuso M et al. Eur J Neurol 2020; 27: 909-927; DOI: 10.1111/ene.14183
Kongressbericht: 6th Congress of the European Academy of Neurology (Online-Veranstaltung)

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Koloriertes Kernspin­tomogramm eines 47 Jahre alten Patienten mit CADASIL. Koloriertes Kernspin­tomogramm eines 47 Jahre alten Patienten mit CADASIL. © Science Photo Library/ Zephyr