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„Unterforschte Medikamente mit viel Potenzial“

Einen Überblick über die aktuellen Studien zum Thema werde er nicht geben, startete Dr. Sebastian Schiel, Zentrum für Palliativmedizin am Klinikum Fulda, in seinen Vortrag zum Einsatz von medizinischem Cannabis in der palliativen Situation. Für ihn sei die Studienlage alles andere als befriedigend und für seine Arbeit kaum aussagekräftig. „Ich möchte Ihnen viel lieber aktuelle Therapieversuche, die ich mit Palliativpatienten durchgeführt habe oder derzeit durchführe, präsentieren.“ Damit wolle er den Zuhörern das Potenzial aufzeigen, dass die Cannabinoide seiner Einschätzung nach für ausgewählte Patienten bieten.
Als erstes berichtete er über eine 71-jährige Patientin mit einem invasiv-lobulären, exulzeriert wachsenden Mammakarzinom. Die Frau war in der Allgemeinchirurgie wegen einer Ulkusperforation mit Vier-Quadranten-Peritonitis behandelt worden. Der Auftrag an die Palliativmediziner lautete, die ältere Dame zu stabilisieren – oder es zumindest zu versuchen.
Die Inappetenz und die massive Übelkeit der Patientin waren auf konservativem Weg therapierefraktär, berichtete Dr. Schiel. Unter einer Mischinfusion mit Metoclopramid, Dimenhydrinat und Ondansetron besserte sich zumindest die Übelkeit vorübergehend, nach Absetzen der Medikamente kehrte sie aber zurück. Auch die Behandlung mit Dexamethason zur Appetitsteigerung half kaum weiter. „Wir haben dann einen Cannabisextrakt hinzugegeben, und zwar einen im ausgewogenen THC-CBD-Verhältnis, jeweils 25 mg/ml.“ Hilfreich bei den Extrakten sei der sogenannte Entourage-Effekt, der unter anderem die unerwünschten psychotropen Effekte des THC reduziert. Mithilfe des Extrakts verschwand die Übelkeit der Frau, sie entwickelte einen hervorragenden Appetit und konnte schließlich in die geriatrische Reha entlassen werden, berichtete der Referent.
Mit dem 38-jährigen Herrn D. präsentierte der Referent einen schwerkranken Patienten mit Sterbewunsch, dem letztlich ein Cannabismedikament den Lebenswillen zurückgebracht hat. Der Patient litt an einem hepatisch metastasierten Kolonkarzinom mit rechtsseitigem, dumpfem Oberbauchschmerz und stärksten Schmerzspitzen. „Besonders gelitten hat er aber unter der dauerhaften Ermüdung seines Lebenswillens“, sagte Dr. Schiel. Das existenzielle Leid, dass der Mann verspürte, ging so weit, dass er mit der ausdrücklichen Bitte nach assistiertem Suizid auf Dr. Schiel zukam: „Herr Doktor, geben Sie mir die Spritze.“
Mit Metamizol und Morphin i.v. war dem Schmerz nicht beizukommen. Auch Dexamethason, laut Dr. Schiel bei Leberkapselschmerz bestens bewährt, zeigte kaum Wirkung. Als segensreich für den Patienten erwies sich das selbstständige Inhalieren von Cannabisblüten (THC 25 %, CBD 1 %, 6 x/d 0,5 g), mit dem der Mann nicht nur die Schmerzspitzen kontrollieren, sondern auch – und auf diesen Punkt wies der Referent ausdrücklich hin – sein existenzielles Leid lindern konnte.
Ein Allheilmittel sind die Cannabinoide nicht, schloss Dr. Schiel seinen Vortrag. Aus seiner Sicht hat die gesamte Substanzklasse aber großes therapeutisches Potenzial und ist ohne Frage unterforscht. „Insbesondere im Bereich der Palliativtherapie, wo wir angezeigte Therapieversuche machen können, spielen diese Medikamente schon heute eine große Rolle in der Symptomkontrolle.“
Dass Cannabinoide in der Palliativsituation sogar bei Kindern zum Einsatz kommen können, zeigte Dr. Sven Gottschling vom Zentrum für altersübergreifende Palliativmedizin am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar. Mittlerweile seien an seiner Klinik über 200 schwerkranke pädiatrische Patienten mit Cannabinoiden behandelt worden. Natürlich müsse man die Indikation für THC-haltige Medikamente bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ganz besonders streng stellen, stellte er klar. Seiner Einschätzung nach ist die Therapie aber auch bei Kindern und Jugendlichen ausreichend sicher. Die Medikamente seien bei niedrig dosierter oraler Anwendung besser verträglich als viele andere Substanzen. Die Inhalation kommt für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende unter keinen Umständen infrage, betonte er.
Prinzipiell titriert man die Cannabinoide langsam über zwei bis vier Tage bis zum gewünschten klinischen Effekt ein und bleibt bei der niedrigsten Wirkdosis. „Nebenwirkungen sehen wir bei uns so gut wie keine“, so der Referent. Zu Toleranzeffekten komme es kaum. „Wir trauen uns auch an die ganz Kleinen ran. Das jüngste Kind, das wir behandelt haben, war drei Wochen alt.“
Er verwies auf die dürftige Datenlage zum Einsatz der Cannabismedizin in dieser Altersgruppe, die sich zum großen Teil aus Einzelberichten oder kleineren Fallserien speist. Vergleichsweise viele Studien wurden im Bereich Epilepsie und mit CBD als Wirksubstanz durchgeführt, weshalb es auch ein zugelassenes Medikament für bestimmte therapierefraktäre Epilepsieformen beim Kind auf reiner CBD-Basis gibt. Zu Schmerz, Übelkeit und Erbrechen, Appetitmangel, Spastik oder neuropsychiatrischen Symptomen liegen kaum Arbeiten vor.
Auch Dr. Gottschling präsentierte einige Fälle aus der eigenen Klinik. Darunter war der 14-jährige Michael mit Zustand nach sechsmaliger Kraniostenoseoperation samt Folgeeingriffen und einigen Metallimplantaten. Der Junge hatte massivste neuropathische Kopfschmerzen mit Allodynie und Hyperalgesie. „Er konnte die einmal pro Woche mindestens notwendige Haarwäsche nur schreiend durchstehen“, veranschaulichte der Referent die Situation. Unruhe, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie eine Autismus-Spektrum-Störung kamen hinzu. Darüber hinaus war dem Jungen aufgrund einer latenten Hirndrucksymptomatik permanent schlecht. Nonopioide blieben ohne Effekt, Opioide schieden aufgrund des Hirndrucks, der Übelkeit und einer habituellen Obstipation von vornherein aus.
„Wir haben uns für einen frühen Therapiestart mit einem Cannabinoid entschlossen“, berichtete der Pädiater. Die Medikation wurde innerhalb von drei Tagen auf 0,2 mg/kg/d Dronabinol hochtitriert, was laut Dr. Gottschling einer mittleren bis gehobenen THC-Tagesdosis beim erwachsenen Patienten entspricht. Die Kopfschmerzen, die Übelkeit und auch die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung besserten sich deutlich und der Junge ließ sich anstandslos die Haare waschen, berichtete Dr. Gottschling.
Quelle: 130. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin
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