Serie: KI in der Diabetologie Miteinander sprechen – nicht nur Daten auswerten

Autor: Antje Thiel

Teil vier unserer Serie KI in der Diabetologie“ beschäftigt sich damit, inwieweit künstliche Intelligenz die Belastung im Rahmen der Diabetestherapie zu verringern. Teil vier unserer Serie KI in der Diabetologie“ beschäftigt sich damit, inwieweit künstliche Intelligenz die Belastung im Rahmen der Diabetestherapie zu verringern. © ireneromanova – stock.adobe.com

Künstliche Intelligenz spielt in der Diabetesversorgung eine stetig wachsende Rolle. Sie kann dazu beitragen, Behandlungsergebnisse zu verbessern und die Komplikationsrate zu verringern, zugleich aber auch die Belastung von Menschen mit Diabetes reduzieren und die Arbeit ihrer Behandlungsteams effektiver gestalten. 

„Ich muss Sie sicherlich nicht davon überzeugen, dass die Qualität der Diabetesversorgung insgesamt besser werden muss“, erklärte Professor Moshe Philipp vom Schneider Children‘s Medical Center Givatayim in Tel Aviv (Israel). Weniger als die Hälfte aller Menschen mit Diabetes erreichten das empfohlene HbA1c-Ziel von < 7 % bzw. 70 % Zeit im Zielbereich (TiR). Bei insulinbehandelten Menschen sei es sogar weniger als ein Drittel. Dies erhöhe auch die Häufigkeit von Komplikationen. „Ich bin davon überzeugt, dass die vielen Entscheidungen, die sie in Bezug auf ihren Diabetes täglich treffen müssen, eine große Belastung darstellen. Warum sollte man also nicht Künstliche Intelligenz einsetzen, um diese Belastung zu verringern?“

Systeme zur Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung (Clinical Decision Support Systems, CDSS), wie sie bei der automatisierten Insulindosierung (AID) mittlerweile von hunderttausenden Menschen mit Diabetes weltweit genutzt werden, seien ein gutes Beispiel für den Erfolg einer algorithmusgesteuerten Therapie: „Alle, die ein AID-System nutzen, erreichen nahezu dieselbe Zeit im Zielbereich“, erklärte Prof. Philipp mit Blick auf eine vielzitierte Veröffentlichung aus 2022, wonach die Anwender*innen eines hybriden AID-Systems in Italien, Schweden, Belgien, Großbritannien, Finnland, Südafrika, der Schweiz und den Niederlanden allesamt um die 76 % TiR erreichten und auch bei allen anderen Parametern (Zeit oberhalb bzw. unterhalb des Zielbereichs) die Zielvorgaben aus dem internationalen Konsensus-Statement von 2019 schaffen.

KI als neues Mitglied im Behandlungsteam

Aus diesem Grund sollten alle Behandlungsteams, die Menschen mit Diabetes begleiten, sich mit dem Einsatz von AID-Systemen vertraut machen, betonte Prof. Philipp. Wie dies im klinischen Alltag vonstattengehen kann, ist Gegenstand eines neuen Konsensuspapiers, das eine internationale Expertengruppe Anfang 2023 veröffentlicht hat. Sogar bei einer Diabetestherapie ohne Insulinpumpe und AID könne man von Künstlicher Intelligenz (KI) profitieren, erklärte der Referent mit Blick auf ein neues, KI-unterstütztes CDSS. Dieses verknüpft die individuellen Patientendaten mit in der Cloud hinterlegten klinischen Anwendungsfällen und leitet daraus konkrete Behandlungsempfehlungen ab, die sowohl für Patient*innen als auch ihre Behandlungsteams zugänglich sind. Die Qualität der Empfehlungen entsprach ziemlich genau der Qualität ärztlicher Empfehlungen, sodass Prof. Philipp folgerte: „Die KI ist also ein neues Mitglied im Behandlungsteam, das ähnlich gute Ratschläge gibt wie ein erfahrener Diabetologe.“

Real-World-Daten zeigten, dass binnen sechs Monaten 48 % der Anwender*innen ihre TiR klinisch relevant verbessert hatten. Auch die Zufriedenheit mit dem Tool und hier insbesondere mit dem Boluskalkulator war hoch. So gaben die Anwender*innen an, weniger Zeit für die Insulindosierung zu benötigen. Die Empfehlungen des Boluskalkulators empfanden sie als vertrauenswürdig und gaben an, ihn deshalb gern weiterhin nutzen zu wollen. Darüber hinaus war es mit dem Tool auch möglich, die Zahl der Prozessschritte bei jedem Patientenkontakt zu halbieren – „vor allem, weil man als Arzt nicht ständig zwischen verschiedenen Plattformen hin- und herwechseln muss“, so Prof. Philipp. „Das spart knapp 9 Minuten Zeit bei jedem Patientenkontakt.“ Diese Zeit könne man dafür nutzen, mit den Menschen darüber zu sprechen, wie sie im Alltag mit ihrem Diabetes zurechtkommen, schlug er vor.

Die KI muss erzogen und trainiert werden

Sein Kollege und Ko-Referent Professor Tadej Battelino von der Universität Ljubljana (Slowenien) zeigte sich von diesem Nutzen ebenfalls überzeugt: „Was unsere Patienten von uns wollen, ist nicht die statistische Analyse jedes einzelnen Glukosemesswerts, sondern eine menschliche Antwort auf ihren Umgang mit der Erkrankung.“ Allerdings stecke KI noch immer in den sprichwörtlichen Kinderschuhen: „Und wir als ihre Eltern müssen sie erziehen und trainieren!“

Als ein gutes Beispiel für das Potenzial von KI präsentierte er die Genome Wide Association Study (GWAS), in der mittels KI die Glukosewerte von über 470.000 Menschen ohne Diabetes analysiert wurden, um ein besseres Verständnis für die Pathophysiologie, für Diabeteskomplikationen und geeignete Therapieoptionen zu erlangen. „Ein solches Genom-Modell kann dabei helfen, Phänotypen zu identifizieren, die ein höheres bzw. niedrigeres Risiko für bestimmte Outcomes haben“, erklärte Prof. Battelino. „Mit maschinellem Lernen kann man im Grunde genommen Menschen hinsichtlich ihrer zukünftigen Risiken profilieren.“

Auch das Retinopathie-Screening mithilfe von KI sei ein gutes Beispiel für sinnvolle KI-Anwendungen. Als weniger erfolgreich wertete er hingegen die Mahlzeitenerkennung und automatische Berechnung der entsprechenden Nährwerte. „Obwohl es hier echte Fortschritte zu verzeichnen gibt, finden Menschen mit Diabetes diese Tools noch immer wenig nützlich“, berichtete Prof. Battelino. Offenbar hätten noch immer viele Menschen kein Interesse daran, sich mit Apps zu beschäftigen – in Deutschland etwa liege der Anteil der Menschen mit Diabetes, die Apps nutzen, bei unter 20 %.

Für ein KI-basiertes CDSS braucht es einen Fahrplan

Aus diesem Grund hätten sich nun einzelne Mitglieder des European Diabetes Forum (EUDF) zusammengeschlossen, um einen Fahrplan für die Implementierung von KI-basierten CDSS zu entwickeln. Denn diese haben das Potenzial, die Therapie von Menschen mit Diabetes grundlegend zu transformieren: „Für bessere Outcomes, höhere Lebensqualität, geringere Behandlungskosten und personalisierte Medizin“, erklärte der Experte.

Europäisches Diabetes-Netzwerk

Das European Diabetes Forum (EUDF) ist eine Organisation, die unterschiedliche Akteure in der europäischen Diabeteslandschaft vernetzen will. Sie wurde gegründet von der European Association for the Study of Diabetes (EASD), der European Foundation for the Study of Diabetes (EFSD), der Foundation of European Nurses in Diabetes (FEND) und der Juvenile Diabetes Research Foundation (JDRF). Die EUDF hat ihren Sitz in Brüssel. 

Entscheidend sei es, dass man zu einheitlichen Daten- und Plattformstandards gelangt, die I-Algorithmen optimiert und alle Beteiligten – insbesondere Menschen mit Diabetes – in die Entwicklung mit einbezieht, schloss Prof. Battelino.