Digitale Gesundheitsanwendungen Noch in den Kinderschuhen

Autor: Michael Reischmann

Die ersten Schritte sind zurückgelegt. Folgt jetzt eine starke Wachstumsphase? Die ersten Schritte sind zurückgelegt. Folgt jetzt eine starke Wachstumsphase? © Pixel-Sho – stock.adobe.com

„Zu wenig Detailwissen und falsche Erwartungen führen dazu, dass DiGA zurückhaltend verordnet werden und deren Einsatz oftmals vorzeitig abgebrochen wird“, klagt die Barmer. Diabetolog*innen berichten durchaus Ähnliches. Zugleich erwarten Kasse wie Ärzt*innen, dass die Apps auf Rezept ein wichtiger Bestandteil in der Patientenversorgung werden.

Im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) waren im März fünf Anwendungen für Menschen mit Diabetes (v. a. Typ 2) gelistet. Dauerhaft aufgenommen ist „HelloBetter Diabetes und Depression“. Vorläufig zugelassen sind „Vitadio“, „mebix“, „glucura Diabetestherapie“ und „Una Health für Diabetes“. Die beiden letztgenannten gehören zu den Newcomern des Jahres 2024. Zum Spektrum der in diabetologischen Praxen eingesetzten DiGA gehören z. B. auch noch „Oviva Direkt für Adipositas“ und „zanadio“, beide dauerhaft für die Behandlung der Adipositas Grad I und II zugelassen, sowie die in der Testphase befindliche Anwendung „ProHerz“ bei Herzinsuffizienz. Das berichtet Friedrich Wilhelm Petry, Mitglied der DDG Kommission Digitalisierung, aus seiner Schwerpunktpraxis in Wetzlar.

Er schätzt, dass 30 bis 40 % der Patient*innen, denen er eine DiGA verordnet hat, davon sehr profitieren. Hier kommt es auch zu Folgeverordnungen. Andere verlieren dagegen peu à peu das Interesse an der digitalen Unterstützung. Eine Befragung von Versicherten für die Barmer ergab, dass im Mittel rund 15 % die Nutzung ihrer DiGA nach weniger als einem Monat einstellten.

Erst 100.000, dann 200.000 und nun 300.000 Verordnungen

Nach Hochrechnungen für den aktuellen Arztreport der Kasse dürften bis Ende 2023 rund 600.000 DiGA zulasten der GKV verordnet oder beantragt worden sein – etwa 100.000 im Jahr 2021, 200.000 in 2022 und 300.000 in 2023. Das entspricht der Größenordnung der jährlichen Darmspiegelungen zur Krebsfrüherkennung. So gesehen stecken die DiGA noch in den Kinderschuhen.

Prof. Dr. Joachim Szecsenyi, Autor des Arztreports und Geschäftsführer des aQua-Instituts in Göttingen, ist überrascht, „dass DiGA häufig ohne die Dokumentation einer Indikation und/oder unter Missachtung dokumentierter Diagnosen im Sinne von Kontraindikationen verordnet wurden“. Er vermutet, dass in Praxen mit seltenen Verschreibungen der Zugang zu DiGA-Informationen wenig eingeübt und die Praxissoftware keine große Hilfe war.

„Es herrscht noch große Unsicherheit auf beiden Seiten“, kommentiert der in Buxtehude und Hamburg niedergelassene Diabetologe Dr. Oliver Schubert-Olesen, ebenfalls Mitglied der DDG Kommission Digitalisierung, die Anlaufschwierigkeiten. Er ist allerdings angesichts von Demografie und Fachkräftemangel überzeugt: „Wir werden solche Anwendungen in Zukunft brauchen, um die Menschen mit ihren Erkrankungen ausreichend unterstützen zu können – das herkömmliche Medizinsystem ist in naher Zukunft allein quantitativ überfordert.“ Er sieht noch großes Potenzial für DiGA im Bereich Diabetes, Adipositas, KHK, Rauchentwöhnung etc.

Mit Testzugängen einen eigenen Eindruck gewinnen

Um sich selbst einen Eindruck von Inhalten und Usability einer DiGA zu verschaffen, nutzt Dr. Schubert-Olesen Testzugänge, die die Firmen gerne bereitstellen. Er weiß aber auch, dass nicht alle Kolleg*innen solch einen Aufwand betreiben wollen und können. Deshalb gehört es zu den Aufgaben einer Fachgesellschaft, Hilfestellung zu leisten. Das passiert z. B. über Fortbildungen.

Die nächste Stufe der DiGA-Entwicklung

Bezüglich der Apps auf Rezept wird im Digital-Gesetz (DigiG) u. a. geregelt:

  • Die Kassen haben sicherzustellen, dass Versicherten die Nutzung einer DiGA i.d.R. innerhalb von zwei Arbeitstagen ab Eingang der Verordnung ermöglicht wird. Es ist kein Genehmigungsvorbehalt und keine regelhafte umfassende Prüfung vorgesehen.
  • Auch digitale Medizinprodukte der Risikoklasse IIb können nun GKV-Leistung werden. Anders als bei DiGA in niedrigeren Risikoklassen ist für sie keine vorläufige Listung mit Erprobungsphase vorgesehen. Für eine dauerhafte Aufnahme ins BfArM-Verzeichnis muss eine abgeschlossene Studie mit nachgewiesenem medizinischem Nutzen vorliegen, ein positiver Versorgungseffekt reicht nicht.
  • Kein Anspruch auf Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis besteht bei Anwendungen, die allein der Steuerung therapeutischer Produkte dienen oder die an bestimmte Hilfs- oder Arzneimittel gekoppelt sind.
  • DiGA-Anbieter dürfen mit Herstellern von Arznei- oder Hilfsmitteln keine Rechtsgeschäfte vornehmen oder Absprachen treffen, die die Wahlfreiheit der Versicherten oder die ärztliche Therapiefreiheit beschränken könnten.
  • Die Einführung erfolgsabhängiger Preisbestandteile für DiGA ist auf 2026 verschoben worden. Das Bundesgesundheitsministerium erarbeitet bis dahin Richtlinien für die Erfolgsmessung, welche die Nutzung, die Zufriedenheit und den Gesundheitszustand der Nutzenden einbeziehen.
  • Benötigt eine Anwendung eine bestimmte technische Ausstattung, stellt der DiGA-Anbieter diese den Versicherten in der Regel leihweise zur Verfügung.
  • DiGA sollen mit der Regelversorgung verknüpft werden – als Bestandteil von DMP und als freiwillige Datenquelle für die elektronische Patientenakte. Ab 2025 sollen DiGA auch mittels E-Rezept verschrieben werden können.

Ende 2023 ließ die Barmer 1.000 niedergelassene Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen online befragen. Ein Drittel davon schätzte den eigenen Informationsstand als schlecht ein. Der Aussage, dass Informationen zu den einzelnen DiGA unzureichend seien, stimmten vier Fünftel zumindest teilweise zu. Das BfArM-Verzeichnis hatten 45 % noch nie genutzt.

Sieben von zehn Befragten sind bereits von Patient*innen auf DiGA angesprochen worden. Jede*r Zweite (56 %) hat in den zwölf Monaten zuvor wenigstens eine DiGA verordnet. Behandler*innen, die selbst beliebige Gesundheits-Apps nutzen, haben höhere Verordnungszahlen als jene 28 % der Kolleg*innen, die noch nie selbst eine Gesundheits-App ausprobiert haben.

„Auf unserer Jahrestagung am 20./21. September in Fulda planen wir ein Symposium zum Thema DiGA“, berichtet Dr. Guido Freckmann, Vorstand der AG Diabetes & Technologie der DDG. Der am Institut für Diabetes-Technologie an der Universität Ulm tätige Diabetologe nennt als Manko die „Parallelwelt“ der DiGA, also die fehlende Einbindung in die Praxisabläufe. Seine Vorstandskollegin Dr. Sandra Schlüter findet es ebenfalls problematisch, dass die Patient*innen nicht durch das Diabetesteam begleitet werden könnten. „DiGA sollten mit dem ärztlichen Handeln besser verknüpft sein“, meint die in Northeim niedergelassene Diabetologin. „Es sind bisher alles keine Anwendungen, die in die medikamentöse Therapie eingreifen.“

Wie sich das künftig aufgrund der  Erweiterung auf Medizinprodukte der Risikoklasse IIb (Digitalgesetz) ändern könnte, mag niemand vorhersagen. Die Anforderungen der Zulassung beim BfArM sind hoch, erklärt Dr. Freckmann. Eine erfolgreiche Erprobungsstudie ist notwendig, um eine dauerhafte Zulassung zu erlangen.

Einheitlich und verständlicher über die Apps informieren

Dr. Schubert-Olesen kann sich gut vorstellen, dass künftig Diabetes-Patient*innen mit einem sensorgestützten Messsystem von DiGA profitieren werden. Der Trend gehe ohnehin zu den Sensoren.

Diabetologe Petry würde sich freuen, wenn eine Online-Anbindung der DiGA an die Praxis gelänge, sodass Daten direkt übermittelt werden könnten. Er sieht den Fortschritt in der Therapiebegleitung (auch per Chat), im Selbstmonitoring von Werten und in der Zielerreichung sowie beim Lernen und Verstehen. Einen vermehrten, zielgenauen Einsatz erwartet Petry, wenn DiGA in Leitlinien aufgenommen werden. Zudem sollte den Ärzt*innen begleitender Aufwand vergütet werden. Während z. B. die Beteiligung an Erprobungsstudien honoriert werde, biete der EBM nur wenig Abrechenbares.

Die Beteiligung von Ärzt*innen an der Entwicklung von DiGA hält der Diabetologe für eine wichtige Voraussetzung, um anwenderfreundliche Produkte zu schaffen. Im Gegensatz zur Barmer findet er das BfArM-Verzeichnis „spitze“. Die Kasse wünscht sich, dass die zentralen Angaben zu den Apps einer Kategorie einheitlich und verständlicher dargeboten werden.