Ist das die Medizin im Jahr 2032?
Mit einem unterhaltsamen Film präsentierte Prof. Häussler vom Berliner IGES-Institut, einem unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen, seine Vision und stellt dem Auditorium Tim und Dina vor: Tim ist ein Patient der Zukunft, der Zugang zum Versorgungssystem bei Bedarf und ohne zeitliche Verzögerung hat. Er wird als „User“ bezeichnet und weist eine erhebliche Expertenkompetenz auf. Dina ist (s)ein weiblicher medizinischer Avatar und überwacht Tims Körperparameter.
Die Geschichte startet frühmorgens beim Zähneputzen. Die elektrische Zahnbürste ermittelt aus dem Speichel das Körpergewicht mit Körperfettanteil und Herzfrequenz. Weil Körpergewicht und der Körperfettanteil ein wenig zu hoch liegen, schlägt Dina ein Bewegungsprogramm für die Mittagspause vor und fragt, ob sie ein Laufband mieten soll. Weil auch die Herzfrequenz 10 % zu hoch liegt, soll Tim auf Kaffee verzichten. Tim verzichtet lieber auf das Laufband – ob auch auf den Kaffee, bleibt offen.
Im Laufe des Tages verspürt Tim leichte Übelkeit und einen latenten Schmerz in der Brust. Dina startet Level 1 der „algorithmisierten Befundserhebung“, eine Art Methodik der Mutmaßlichkeit einer Diagnose, und bittet Tim um sein Einverständnis – das Thema Datenschutz wird also auch in Zukunft eine Daseinsberechtigung haben. Dina macht eine Schmerzanalyse und fragt nach Intensität und Dauer, dann bittet sie Tim, den Körperscanner, den er am rechten Handgelenk trägt, an das Brustbein zu halten, um ein EKG zu schreiben. Das EKG ist unauffällig, meldet Dina zurück. Der Blutdruck leicht erhöht, jedoch besteht kein Grund zur Beunruhigung.
Später am Tag empfindet Tim die Symptome nach wie vor beunruhigend und bittet seinen Avatar um Rat. Wieder kein auffälliges Ergebnis, trotz erweiterter Diagnostik – im Film wird ein Ultraschall mit einem Smartphone-Zusatzgerät durchgeführt. Dina vergleicht die Ergebnisse mit denen aus den letzten drei Jahren und sieht keine signifikanten Abweichungen, möchte aber die Ergebnisse mit Tims Expertennetzwerk diskutieren.
Tim hätte jetzt lieber eine telemedizinische Arztkonsultation, er nennt sogar eine Wunsch-Ärztin. Dina vereinbart einen Termin am selben Tag. Zwei Stunden später meldet sich die Ärztin per Videokonferenz und bespricht mit Tim die Symptome. Sie fragt nach zusätzlichem Stress, berichtet, dass Tims Werte mit einem Expertenteam aus der Uni München besprochen wurden und man übereingekommen wäre, dass kein ernstes Ereignis wie Herzinfarkt die Ursache wäre, sondern eher ein psychisches Problem oder mehr Stress.
Zugriff auf „Big Data”
Soweit der gut gemachte Film – und es stellt sich einem die Frage, ob dies tatsächlich die Zukunft der Medizin sein könnte? Elegant und einfach, mit Zugang zum Versorgungssystem bei Bedarf und ohne Verzögerung, mit Point-of-care-Diagnostik durch elektrophysiologische Handscanner, mit autorisierter Datenspeicherung und -verwendung sowie bei Bedarf einem Arzt „on demand“? Aktuelle Ergebnisse eines „Users“ (Patienten) werden sekundenschnell mit früheren Ergebnissen und mit der genetischen Grundlage verglichen. Der Zugriff auf „Big Data“ erlaubt den Abgleich aktueller Symptome mit tausenden anderen aus einer Datenbank. Medizinische Expertenteams stehen ebenfalls „on demand“ bereit und erst, wenn im Vorfeld die Home-Diagnostik gemacht und erste mögliche Ursachen gefunden wurden, kommt es zu einem persönlichen Termin mit einem Arzt.
Der Referent Prof. Häussler verspricht vor allem Sicherheit für den User/Patienten und wesentlich mehr Effizienz für alle Beteiligten. Überfüllte Wartezimmer mit ewig langen Wartezeiten entfallen dabei ebenso wie doppelte oder dreifache Diagnostik, Ausfallzeiten für die Arbeit oder lange Anfahrtswege im ländlichen Raum.
Deutschland hinkt der digitalen Entwicklung zwar hinterher, aber das lässt sich laut Prof. Häussler aufholen. Die wesentliche Botschaft dabei ist, dass sich das System verändern wird: Patienten werden zu Usern, Ärzte zu Dienstleistern und digitale Angebote werden von Branchenfremden kommen. Ob wir das als Chance oder Bedrohung wahrnehmen, liegt an uns.
Quelle: Impulsvortrag bei der Eröffnungsveranstaltung des Diabetes Kongresses 2018