Demenzreport 2020: Fehlversorgung von Demenzpatienten
Fast ein Drittel aller demenzerkrankten Versicherten der Bremer Ersatzkasse hkk bekamen innerhalb eines Jahres mindestens einmal ein Psychopharmakon verordnet. Dabei handelte es sich größtenteils um Neuroleptika, die üblicherweise bei Schizophrenie und Psychosen angewendet werden. So lautet ein Ergebnis des Demenzreports 2020 der Universität Bremen unter der Leitung von Prof. Glaeske und in Kooperation mit der Krankenkasse.
Für den Report wurden die Daten von hkk-Versicherten mit Demenzdiagnose aus den Jahren 2017 bis 2019 aus vier Bundesländern ausgewertet. Im Jahr 2019 wurden demnach beispielsweise 34,4 % der Demenzpatienten Neuroleptika verordnet, Tendenz über die untersuchten Jahre hinweg steigend. Der Anteil der Patienten, die Antidementiva erhielt, lag bei knapp 22,3 %.
Prof. Glaeske sieht in diesem Verordnungsverhalten ein Problem: „Es gibt keinen Grund, Demenzerkrankte mit konventionellen Neuroleptika zu behandeln, da nicht belegt ist, dass diese Medikamente Verhaltensstörungen bei den Betroffenen positiv beeinflussen.“ Zudem verdichteten sich seit einigen Jahren die Hinweise, dass Neuroleptika bei Demenzerkrankten Folgen wie Herzinfarkt, Schlaganfall sowie Lungenentzündung haben können und mit einer erhöhten Sterblichkeit zu rechnen ist. Zulassungsbehörden und pharmazeutische Unternehmen hätten die Ärzte schon vor mehr als zehn Jahren auf das erhöhte Sterberisiko hingewiesen. Außerdem können Neuroleptika bei Ruhelosigkeit und herausforderndem aggressivem Verhalten von Demenzpatienten möglicherweise zu einem rapiden Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit beitragen.
Die meisten Psychopharmaka kommen von Hausärzten
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Während die Mehrzahl an Antidementiva-Rezepten vor allem von Neurologen kämen, würden die meisten Antipsychotika, Z-Substanzen und Benzodiazepine von Hausärzten verordnet. Ursache für den häufigen Einsatz von Neuroleptika sei u.a. das emotionale Stressempfinden bei den Betreuungspersonen, das von Hilflosigkeit, Überforderung, Ärger und körperlicher Bedrohung geprägt sei.
Die Bremer Hausärztin und Geriaterin Heike Diederichs-Egidi spricht in diesem Zusammenhang von einer Zwickmühle für die Hausärzte. Als Arzt müsse man sich entscheiden, wessen gesundheitliches Risiko er höher einschätze. Denn die gesundheitlichen Belastungen für pflegende Angehörige seien enorm. Das gelte auch für Pflegekräfte, zumal in den Heimen der Personalmangel verschärfend hinzukomme.
Dass über die Hälfte aller Neuroleptika in der stationären Pflege verschrieben wird, lasse vermuten, „dass der Mangel an Pflegepersonal mit Arzneimitteln ausgeglichen werden soll“, betonte Prof. Glaeske.
Personenzentrierte Pflege braucht mehr Personal
Lediglich eine kurzfristige Anwendung sei vertretbar, wenn Betroffene ohne entsprechende Medikation eine unbeherrschbare Gefährdung für sich oder andere sind. Er forderte, dass Verhaltensstörungen bei Demenz vorrangig durch eine Verbesserung der Pflegesituation, Training der Alltagsfertigkeiten und milieutherapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie behandelt werden. Für eine personenzentrierte, aktivierende Pflege brauche man aber auch mehr Personal, so Prof. Glaeske. Er zitierte einen Pfleger: „Gebt uns mehr Pfleger, dann brauchen wir weniger Haldol.“
Quelle: Demenzreport 2020