Von Telemedizin bis eHealth Digital wie die Schweden
Gerade im Gesundheitswesen haben in Schweden innovative Konzepte Tradition: So werden z. B. mittlerweile elf Prozent der medizinischen Konsultationen mithilfe von Telemedizin abgewickelt. Die dünne Besiedlung in Kombination mit dem immer stärkeren Ärztemangel begünstigte in Schweden die Digitalisierung der Medizin. Vor allem die Landbevölkerung profitiert davon, wenn z.B. die Fahrt- und Wartezeiten stark reduziert werden und der Zugang zu Ärzt:innen jederzeit digital gesichert ist. Aber auch für die behandelnden Mediziner:innen hat der höhere Anteil an Telemedizin Vorteile: Insbesondere flexiblere Arbeitszeitenmodelle bei gleichwertiger Vergütung für digitale Services machen telemedizinische Konsultationen dort attraktiv.
Während Schweden die Digitalisierung kontinuierlich vorantreibt und diese von der Bevölkerung in hohem Maß genutzt wird, ist Deutschland von diesem Ziel weit entfernt. Laut Digital Health Index liegen wir abgeschlagen auf dem 16. Platz (von 17), Schweden hingegen auf Platz 7. Das schwedische Gesundheitssystem ist "smart": Die Regierung machte aus der medizinischen Unterversorgung auf dem Land früh eine Tugend. 1997 wurden erste digitale Projekte auf lokaler Ebene realisiert. Mit dem Positionspapier "Digitale Gesundheit" kam 2006 eine nationale Strategie auf den Weg, inklusive flächendeckender elektr. Patientenakte (ePA). Während zu Beginn des Prozesses der Aufbau digitaler Gesundheitsdienste und -anwendungen im Fokus stand, konzentriert sich die Digital-Health-Agentur heute mit "Vision for eHealth 2025" auf die Interoperabilität und Integration der konkurrierenden regionalen IT-Systeme. Mit dem Ziel: ein Patient, eine Akte und der Rang als Weltspitze im Bereich eHealth.
Deutschland steht noch am Anfang
In Deutschland stehen wir bei der Digitalisierung von Gesundheitsanwendungen und -diensten noch ganz am Anfang. Um den Rückstand aufzuholen, könnten wir von den Erfahrungen anderer Länder profitieren. Denn — trotz aller Unterschiede — weisen die Gesundheitssysteme und die Versorgungsstrukturen zahlreiche Parallelen auf. Vor allem das Problem der flächendeckenden Versorgungssicherheit teilen Schweden und Deutschland: Die Zahl der Allgemeinmediziner:innen schrumpft drastisch. Das stellt die Gesundheitssysteme hinsichtlich der adäquaten ambulanten Primärversorgung gerade im ländlichen Raum vor Herausforderungen. Auch die alternden Gesellschaften sowie die Zunahme chronischer Erkrankungen führen zu erheblichen Versorgungsproblemen – in beiden Ländern.
Statusquo in Schweden
Etwa 1.200 Gesundheitszentren bilden hier das Fundament des Gesundheitssystems. Allerdings sind digitale Gesundheitsportale und Apps mit ePA-Anbindung – wie das landesweite "Gesundheitsportal 1177" oder die Portale privater Anbieter wie Doktor.se, Kry und MinDoktor – i. d. R. eine der ersten Anlaufstellen für die Patient:innen. Diese drei Portale vereinen einen Anteil von 90 % am Markt für digitale medizinische Beratung in Schweden. Dort können sich die Menschen über Krankheitsbilder informieren, Einsicht in die Krankenakte nehmen oder Arzt- und Impftermine vereinbaren. Videosprechstunden bucht man bequem und unkompliziert über die elektronische BankID, welchejede Schwed:inbesitzt und mit welcher auch Nutzeraccounts angelegt werden. Nach einer Ersteinschätzung durch medizinisches Fachpersonal per Telefon oder Chat folgt eine digitale Visite mit Allgemeinmediziner:innen. Diese können rezeptpflichtige Medikamente per eRezept verschreiben, ambulante Untersuchungen anordnen und Überweisungen veranlassen. Das hybride Konzept, das Betroffene zunächst digital behandelt und nur bei Bedarf physisch einbestellt, soll auch für Menschen in abgelegenen Gebieten oder mit eingeschränkter Mobilität eine qualitativ hochwertige medizinische Beratung und Versorgung sicherstellen. In "Virtual Care Rooms" können Patient:innen z. B. selbst ihre Werte messen und werden dabei von einer Ärzt:in per Videogespräch beraten und angeleitet.
Auch die gesamte Dokumentation der Gesundheitsdaten erfolgt in Schweden digital. Im Zuge der "Vision 2025" sollen zusätzlich gemeinsame und transnationale Datenpools zwischen Schweden und Norwegen mit einem vereinfachten Datenzugang geschaffen werden. Das bietet den Vorteil, dass behandelnde Ärzt:innen schnell und von überall auf die Krankheitschroniken zugreifen können. Und es fördert auch die personalisierten Behandlungsformen und die datengesteuerte Weiterentwicklung der Versorgungsmethoden. Eine elektr. Patientenakte ist seit Jahren flächendeckend eingeführt. Sie enthält jeden Kontakt mit dem Gesundheitssystem und sämtliche Informationen über die Patient:innen, auch Adressdaten der Kontaktpersonen, Laborbefunde oder Röntgenbilder. Da das schwedische Gesundheitssystem regional organisiert ist, gibt es neben den regionalen Patientenakten auch eine nationale Patientenkurzakte (NPÖ), die Gesundheitsdaten übergreifend dokumentiert. Über die beiden elektr. Patientenakten sind zwischen 50 % und 75 % aller medizinischen Einrichtungen miteinander vernetzt und machen diese Daten — nicht nur im Notfall — sofort verfügbar. Auch im transnationalen Austausch von Patientendaten liegt Schweden an vorderer Stelle: Schon seit 2019 ist es möglich, eRezepte mit Finnland, Portugal, Estland und Kroatien auszutauschen.
Patienten-Partizipation vs. "German Angst"
Anders als in Deutschland stößt die Telemedizin in der schwedischen Bevölkerung auf breite Akzeptanz: Gegenüber digitalen Gesundheitsanwendungen und der Weitergabe von Daten an Dritte haben die 10,3 Millionen schwedischen Bürger:innen wenig bis gar keine Berührungsängste. 97 % aller Schwed:innen nutzen das Internet. Das staatliche "Gesundheitsportal 1177" verzeichnet circa acht Millionen Besucher:innen monatlich. Mehr als eine Million Schwed:innen nutzen z. B. den telemedizinischen Service von Doktor.se. Auch die elektr. Patientenakte, auf die alle Schwed:innen ab 16 Jahren online zugreifen können, ist ein beliebtes Instrument, um sich einen Überblick über die Diagnosen und Therapien zu verschaffen, Entscheidungen zu treffen und die eigene Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. In Deutschland beherrscht seit vielen Jahren eine Angst vor Datenmissbrauch und -manipulation die Diskussion. Besonders die immer wieder verschobene Einführung einer elektr. Patientenakte weckt Misstrauen und bestätigt diese Befürchtungen. Laut einer 2021 durchgeführten Patientenumfrage sind sechs von zehn Deutschen besorgt, durch die elektr. Patientenakte zur "gläsernen Patient:in" zu werden.
70,2 % rechnen mit höheren Versicherungspolicen. Klar ist: Der Schutz sensibler Gesundheitsdaten muss stets an erster Stelle stehen. Auch die Frage nach der Hoheit über die eigenen Daten muss abschließend geklärt werden. Wenn wir jedoch verhindern wollen, dass das 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz ausgebremst wird, bevor es Fahrt aufnehmen kann, sind konstruktive Ideen und Transparenz gefragt. Das scheint auch eine Datapuls-Umfrage zu bestätigen, nach der sich knapp die Hälfte der Bevölkerung nicht ausreichend über Perspektiven und Risiken der ePA informiert fühlt. Höchste Zeit, das Nutzenpotenzial der Digitalisierung für Ärzt:innen und Patient:innen in den Vordergrund zu rücken und Ängste erfolgreich abzubauen. Gefragt sind hybride Lösungen: App-basierte Videosprechstunden können z. B. ein wichtiger Schritt sein hin zu einem variablen Angebot auch hier in Deutschland. Nach schwedischem Vorbild können so Ärzt:innen und Patient:innen an 365 Tagen im Jahr von 07.00 bis 22.00 Uhr im Rahmen einer digitalen Sprechstunde zusammenfinden – ohne persönliche Terminvereinbarung vor Ort. Angesichts der Unterversorgung im ländlichen Raum, der Aufnahme-Stopps für Neupatient:innen und langer Wartezeiten können telemedizinische Angebote ein Versorgungsplus schaffen und dadurch auch die Ärzt:innen entlasten. Das gilt insbesondere für die Hausarztpraxen, die weiterhin Anlaufstelle Nummer 1 sind. Zukünftig wird es in Deutschland v. a. darum gehen, hybride Versorgungsstrukturen zu schaffen. Dies bedeutet, dass digitale und physische Strukturen besser verzahnt werden und Patient:innen sowohl telemedizinisch als auch vor Ort ambulant behandelt werden können. So wie es in Schweden schon länger praktiziert wird, könnte sich dadurch auch hierzulande die digitale mit der ambulanten Welt konsequent verbinden. Für eine moderne, effiziente und patientenzentrierte Versorgung mit durchgehend hoher Qualität und einem Servicelevel, das die Patient:innen begeistert und die Ärzt:innen nachhaltig entlastet.
Das sagen Mediziner:innen: Dr. med. Charlotte Kleen, Allgemeinmedizinerin in einer Landarztpraxis in Deutschland und Teledoktorin
"Ich bin zusätzlich zu meiner Tätigkeit in der Praxis gerne Teledoktorin, denn die digitale Medizin überwindet auch dort Probleme, die nicht offensichtlich sind. Viele Bereiche in Deutschland setzen bereits auf telemedizinische Sicherstellungslösungen wie die ärztliche Häftlingsbetreuung oder auch Offshore-Mannschaften auf Bohrinseln, in Windparks oder auf Schiffen. Arbeitgeberfinanzierte Beratungsangebote (EAP) zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit überwinden mit flexiblen Ärzt:innen logistische Grenzen. Gleichzeitig liegt hierzulande jedoch gerade im Praxisalltag noch viel brach: Beim Abschied von meiner ersten Weiterbildungsstelle sagte mir damals ein überaus freundlicher Oberarzt, er werde meine künstlerische Handschrift vermissen. Das war das erste Mal, dass ich darüber nachdachte, ob meine ärztlichen Kolleg:innen mit der typisch ärztlichen Handschrift die Patientensicherheit riskierten. In einem solchen Falle sind Anordnungen nicht valide lesbar und somit auch nicht auf Plausibilität prüfbar. Eine eigentlich einfache Optimierung, die längst hätte von digitalen Anwendungen übernommen werden können. In diesem Sinne bin ich überzeugt: Digitalisierung bringt der Ressource Arzt und der Qualität der Patientenversorgung einen Mehrwert."
Digital consultations in Swedish primary health care: a qualitative study of physicians’ job control, demand and support, November 2020: bmcprimcare.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12875-020-01321-8
Autorin
Geschäftsführerin
von Doktor.de
info@doktor.de
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (7) Seite 22-24
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