Ein Jahr nach der Flut Eine Katastrophe mit Folgen
Es gibt Situationen, die man sich nicht vorstellen kann, außer man hat sie selbst erlebt: Kurzentschlossen kommt Astrid Näkel (57) mit ihrem Sohn am späten Abend des 14. Juli 2021 in die Praxis nahe der Ahr. Sie wollen technische Gerätschaften aus der Praxis im EG nach oben bringen − auf Nummer sicher. Wie viele in Dernau erwarten sie keine rasanten Entwicklungen, in der Region hat es zuvor keine Überflutungen im großen Ausmaß gegeben. Das bis dato kleine Flüsschen Ahr erscheint niemandem bedrohlich. "Wir hatten immer mal wieder Wasser im Keller, aber das war es dann auch", erzählt die hausärztlich tätige Internistin. An diesem Tag läuft alles anders: "Innerhalb weniger Minuten ist das EG mit der Praxis überflutet und das Wasser steigt immer weiter. Wir können nur noch uns selbst in Sicherheit bringen. Wir retten uns erst in die oberen Stockwerke und dann aufs Dach", erinnert sich Näkel noch gut.
Hier verbringen beide die Nacht und harren der Dinge, die da kommen. Und es kommt, was sich keiner vorstellen kann. Von einer durchschnittlichen Höhe von 50 cm steigt die Ahr auf über acht Meter an. Der Lärm durch die Flutmassen ist ohrenbetäubend. "Es ist finsterste Nacht, wir sitzen auf dem Dach und Leute ertrinken um uns herum in ihren Häusern", das sind Momente, die sich einbrennen. In der Nacht kann die Hausärztin vom Dach aus lange Reihen an Blaulicht in den Weinbergen sehen: "Uns war klar, da sind Menschen, um zu helfen, aber es ist schlichtweg kein Durchkommen." Vom Hausdach gerettet werden sie schließlich vom Schaufelbagger lokaler Helfer:innen: Mutter und Sohn steigen in die Baggerschaufel, in die eine Sitzbank platziert wurde, und können so außer Gefahr gebracht werden. Später bietet sich den Anwohner:innen ein Bild, wie man es aus entfernten Krisengebieten kennt: "Panzer fahren durch die Straßen, um den Weg freizuräumen und zu den Eingeschlossenen zu gelangen."
Keine Zeit für eine Pause
Das Chaos und die Probleme vor Ort sind einfach zu groß. Von Mittwoch auf Donnerstag rauscht die Flutwelle durchs Ahrtal. Am Freitag der gleichen Woche richtet Astrid Näkel im Untergeschoss ihres Wohnhauses, das in etwas Entfernung gelegen und trocken geblieben ist, in ehemaligen Gästezimmern eine Notpraxis ein. "Meine Tasche für Hausbesuche hatte ich daheim, darin u. a. Handschuhe, Stethoskop und wichtige Medikamente", erzählt Näkel. Von ihrer Hausarztpraxis, die sie 13 Jahre betrieben hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes nichts geblieben. Es stehen nur noch die Mauern. "Mit rund 30 Jahren Berufserfahrung sagt man sich dann: Das geht auch erst einmal ohne Großgeräte wie EKG und Ultraschall − und so schlagen wir uns mit dem Nötigsten durch." Die ersten Tage und Wochen kümmert sie sich hier alleine um diejenigen ihrer Patient:innen, die bleiben. Ihre Praxis fungiert als zentrale Notfallpraxis für die Region. Glücklicherweise liegt Dernau nahe der Autobahn und die Zufahrt dorthin ist möglich. Ein Erreichen der Nachbardörfer wird länger nicht denkbar sein. Die Patient:innen, die von der Flut betroffen sind, plagen neben den Schäden an Hab und Gut noch weitere Probleme: Wichtige Medikamente sind in den Fluten verloren, ebenso Krankenkassenkarte und andere Dokumente. Eigentlich würde sich nun auszahlen, dass die Hausärztin in die Digitalisierung der Patientendaten investiert hat, aber den entsprechenden Festplatten macht ein anderer Faktor den Garaus. Eine große Menge Heizöl ist ins Wasser geraten und hat die Daten vernichtet.
Überwältigende Unterstützung
"Glücklicherweise bekommen wir als Praxis schnell Unterstützung von der KV und können die Versorgung der Patienten erst einmal händisch abwickeln", erklärt Näkel. Auf den entsprechenden Formularen, die ihr Kolleg:innen zukommen lassen, erfolgt ein Vermerk mittels Stempel und so kann sie direkt weiterarbeiten. Auch die Unterstützung durch Hilfsorganisationen vor Ort wie z.B. das THW und viele andere, die direkt einsetzt, und die Hilfe vonseiten der Bundeswehr sind wichtig: Da wird nicht viel gefragt und unbürokratisch geholfen. Die Bereitschaft der vielen Freiwilligen, die in das Katastrophengebiet kommen, bleibt nachhaltig im Gedächtnis: "Wir alle haben bis dato gedacht, die Digitalisierung und auch die Pandemie könnten vielleicht zu einer Entfremdung führen. Dem ist nicht so!" Fremde Menschen strömen ins Ahrtal und wollen helfen. Darunter viele junge Leute: "Sie stehen einfach da und möchten etwas tun − die Schaufel über der Schulter. Da wird die eigene Freizeit, der Urlaub, gecancelt und los geht´s. Einfach überwältigend!" Für die Betroffenen ist das auch emotional extrem wertvoll. "Viele Spenden gehen ein und darunter auch von Kollegen aus anderen Arztpraxen. Schnell erhalten wir von Apotheken Lieferungen mit wichtigen Medikamenten und können unsere Patienten wieder besser versorgen." 90% der Anwohner:innen vor Ort sind selbst von der Flut betroffen. "Wir haben alle das Gleiche erlebt, das verbindet. Für die Patient:innen ist es gerade in der ersten Zeit wichtig, dass jemand da ist, der sich um sie kümmert, und auch für mich ist es entscheidend, dass ich jetzt etwas tun kann. Das gibt mir sehr viel zurück", so Näkel wenige Wochen nach der Flut in einem TV-Interview.
Eine ihrer Mitarbeiterinnen ist selbst betroffen und fällt auch aus. Sie und eine andere Kollegin stoßen später dazu. Also kämpft Näkel die erste Zeit alleine, "aber unser Haus ist zu dieser Zeit voll mit Freunden, Bekannten und Fremden, die mich tatkräftig unterstützen." Zwei Monate lang arbeitet die Hausärztin durch: erst alleine, dann mit ihren zwei jetzigen Mitarbeiterinnen − von 8.00 Uhr früh bis abends gegen 20.00 Uhr.
In der ersten Zeit fehlt es an allem: "Wir haben kein fließend Wasser, keinen Strom, keine Heizung. Viele haben nichts mehr, vielleicht noch ein paar Kerzen auf dem Dachboden, wenn man noch einen Dachboden hat. Als die Generatoren da sind, gehe ich morgens nach dem Aufstehen erst in den Keller und hole Benzin, damit die Notpraxis mit Strom versorgt ist." So wird z. B. auch der Kühlschrank für die Impfstoffe betrieben. Und den ersten Kaffee des Tages? Dafür wirft die Hausärztin dann den Gasgrill im Garten an, um Wasser zu kochen. "Wir bekommen gar nicht mit, was im Rest des Landes berichtet wird, denn wir haben kein Fernsehen, keine Zeitung", erzählt die Hausärztin, die selbst mehrfach u. a. für TV-Berichte über die Flutfolgen interviewt wird. Ein altes Radio versorgt einen erst einmal mit aktuellen News. Ein halbes Jahr dauert es, bis technisch wieder alles rundläuft und z. B. die digitale Infrastruktur in der Praxis inkl. Praxisverwaltungssoftware wieder vollständig funktioniert.
Ein Schaden, der bleibt
Bis die Infrastruktur vor Ort wieder halbwegs läuft, wird es noch dauern. Der Handwerkermangel trägt seinen Teil bei und auch der Materialmangel in der Baubranche durch die Pandemie. "Auch heute noch — knapp ein Jahr danach — werden in der Region jede Woche Häuser abgerissen, weil sie nicht zu retten sind", erklärt Näkel. In der Hochphase der Flut stand die Ahr auf einer Höhe von drei Metern über der Praxisdecke. Die Hausarztpraxis war wie viele Unternehmen vor Ort nicht gegen Elementarschäden versichert. "Privat hatte ich vorgesorgt, aber irgendwie hatte ich das als Unternehmerin nicht im Blick. Das ist uns schlichtweg durchgerutscht, auch weil hier niemand mit einer solchen Naturkatastrophe gerechnet hat", zieht Näkel Bilanz.
Die finanziellen Folgen sind verheerend, an den Aufbau einer neuen Praxis in fremden Räumen ist nicht zu denken: "Die Aufwendungen, die anstehen, um das Notwendige wieder zu ersetzen, binden alle Mittel. Die Mietkosten für eine neue Praxis stemmen? Keine Chance." Auch fehle es vor Ort an geeigneten Räumlichkeiten: "Räume in einem trockenen, sicheren Gebäude im Erdgeschoss oder barrierefreie Räumlichkeiten in höheren Stockwerken, in denen technisch alles funktioniert, sind Mangelware." Die Spendenbereitschaft und die Unterstützung der KV sowie der Ärztekammer Rheinland-Pfalz sind eine große Hilfe, aber: Diese Spenden werden zu den Betriebseinnahmen zugerechnet. "Ich kenne hier vor Ort niemanden, der die zugesagte Wiederaufbauhilfe zum jetzigen Zeitpunkt erhalten hat", so Näkel Anfang April 2022. "Auch die müssen wir versteuern." Problematisch erweist sich auch die Berechnungsweise: "80% vom Zeitwert (!) werden ersetzt, davon 5.000 Euro Soforthilfe abgezogen, der Rest muss mit den Betriebseinnahmen erst einmal durch die Steuer.
Immer noch liegt im Ahrtal vieles im Argen: Die Straßen sind notdürftig gerichtet. Alltägliches wie Schule, Bäcker oder Tankstelle gibt es vielerorts immer noch nicht. Mit einem gewissen Abstand treten bei immer mehr Betroffenen gesundheitliche Langzeitfolgen zutage: "Seit 2–3 Monaten beobachten wir eine deutliche Zunahme von psychosomatisch mitbedingten Krankheitsbildern wie Herz-Kreislaufbeschwerden, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes oder muskläre Probleme. Extrem zugenommen haben Schlafstörungen und Angstzustände. In der Region wurden zusätzliche psychotherapeutische Stellen eingerichtet, diese sind aber bereits heillos ausgebucht. Auch wir selbst sind dagegen nicht gefeit und müssen aufpassen, dass wir Warnhinweise nicht übersehen."
Ans Aufgeben hat die Hausärztin aber in keiner Minute gedacht. Ihr Motto: "Wir müssen zusammenhalten und gemeinsam wieder etwas Neues schaffen – das geht nur Hand in Hand."
Wir wünschen dem Praxisteam und allen anderen Betroffenen weiterhin alles Gute bei Wiederaufbau und Neustart!
Autorin
Sabine Mack
Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (6) Seite 54-56
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