Serie „Green Diabetes“ Ökodesign-Verordnung und Vergaberecht als regulatorische Hebel
Wenn es um Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit geht, hinken die Hersteller von Medizinprodukten anderen Branchen hinterher. Schuld daran ist nicht unbedingt mangelndes Problembewusstsein, sondern in erster Linie verbindliche Rechtsvorgaben, die der Patientensicherheit – Stichwort Hygiene – allerhöchsten Stellenwert einräumen. In der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) jedenfalls spielen Umwelt- und Klimaschutz keine Rolle – wenn man einmal von der Verpflichtung zur sicheren Entsorgung gebrauchter Medizinprodukte absieht.
Recyclingmaterial gilt als signifikante Produktänderung
Nachhaltiges Produktdesign ist bis dato also nicht verpflichtend. Zudem ist es für die Hersteller von Medizinprodukten mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden. Wollen sie etwa für bereits zugelassene und zertifizierte Produkte aus Gründen des Klimaschutzes künftig recycelten Kunststoff nutzen, stehen sie zum einen vor dem Problem, dass Recyklatmaterialien nicht immer zuverlässig und in gleichbleibender Qualität verfügbar sind.
Darüber hinaus wird eine solche Veränderung bei der Materialauswahl auch als „signifikante Produktänderung“ eingestuft und erfordert damit eine Rezertifizierung durch die dafür zuständigen Stellen. „Das alles braucht Zeit für die Umsetzung, zudem muss auch die Rezertifizierung in den Richtlinien abgebildet werden“, weiß Clara Mailin Allonge, Co-Leiterin Nachhaltigkeit beim Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), dem Branchenverband der Medizinproduktehersteller.
Dennoch ist die Industrie gut beraten, sich bereits heute mit ökologischem Produktdesign auseinanderzusetzen. Denn der Aktionsplan der Europäischen Union, nach dem die Mitgliedstaaten ihren Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber 1990 reduzieren sollen, enthält u.a. den Entwurf für eine Ökodesign-Verordnung, welche die bisherige Ökodesign-Richtlinie ablösen soll.
Mit der neuen Verordnung könnten die bislang geltenden Ausnahmen für Medizinprodukte oder Bauteile wie medizinische Displays, externe Stromversorgungsgeräte oder Lichtquellen in Medizinprodukten entfallen. Sie müssten dann – wie Kühlschränke oder Waschmaschinen – einen digitalen Produktpass vorweisen, der Daten über den gesamten Lebenszyklus enthält. Schließlich will die EU über alle Branchen hinweg den Wandel von linearen und abfallintensiven Geschäftsprozessen hin zu einer Kreislaufwirtschaft forcieren.
Viele wollen gern schnell auf neue Systeme umsteigen
Eine Abkehr von der Wegwerfmentalität erfordert allerdings auch bei den Krankenkassen und ihren Versicherten ein Umdenken. So wäre es aus Sicht von Andreas Karch, ehemals bei einer großen gesetzlichen Krankenkasse für die Diabetesversorgung zuständig, sinnvoll, dass z.B. nach einem Systemwechsel nicht mehr benötigte Insulinpumpen an andere Patient*innen ausgegeben und so weiterverwendet werden. Immerhin ist der Wiedereinsatz von Hilfsmitteln nach § 127 SGB V explizit vorgesehen.
Doch die Realität sieht anders aus. Tatsächlich sind Menschen mit Diabetes angesichts des rasanten technologischen Fortschritts häufig unzufrieden damit, im Zuge einer Insulinpumpen-Verordnung vier Jahre an ihr Hilfsmittel gebunden zu sein. Viele hätten gern die Möglichkeit, verschiedene Modelle zu testen und schneller auf neue Systeme umsteigen zu können. Ob sie damit einverstanden wären, eine gebrauchte Pumpe zu nutzen, ist fraglich.
Wo Ministerien und Regulierungsstellen ansetzen
- Das Bundesgesundheitsministerium will durch Förderung verschiedener Forschungsvorhaben zunächst wissenschaftliche Evidenz generieren, relevante Akteure vernetzen, sich austauschen und gute Praxisbeispiele bekannt machen. Ein Beispiel ist das Modellprojekt „Ressourceneffizienz, Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – Eine Bestandsaufnahme”, dessen Ergebnisse im Frühjahr 2023 vorliegen sollen.
- Der GKV-Spitzenverband verweist auf die inzwischen etablierte digitalisierte Antragstellung zur Aufnahme von Produkten in das Hilfsmittelverzeichnis. Entsprechend könnten auch Präqualifizierungsstellen verpflichtet werden, papierlose Antragstellungen zu ermöglichen. Potenzial sieht man bei den Genehmigungs- und Abrechnungsverfahren, wo insbesondere der elektronische Kostenvoranschlag für die Leistungserbringer verpflichtend sein sollte.
- Der AOK-Bundesverband würde es zwar begrüßen, wenn durch Produktinnovationen die Anwendungsdauer von Hilfsmitteln verlängert oder Einwegmaterialien durch länger verwendbare Produkte ersetzt werden. Allerdings fehlt derzeit eine Rechtsgrundlage, die verfügbaren Therapieoptionen auf Vertragsebene durch Nachhaltigkeitsüberlegungen einzuschränken. Kriterien sind aktuell insbesondere die medizinische Notwendigkeit, die Wirtschaftlichkeit und die Erfordernisse des Einzelfalls.
- Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) konsultiert aktuell die Öffentlichkeit, um eine Anpassung des Vergaberechts vorzubereiten. Ziel ist es, die öffentliche Beschaffung nicht nur zu vereinfachen, professionalisieren, digitalisieren und beschleunigen, sondern auch die soziale, ökologische und innovative Ausrichtung zu stärken. Mehr zum Vergabetransformationspaket: bmwk.de
Zudem wäre die Wiederverwendung gebrauchter Hilfsmittel mit enormem logistischen Aufwand verbunden. „Früher haben die Krankenkassen gebrauchte Rollatoren vorgehalten. Doch dann sind die Preise für diese Produkte stark gesunken, sodass sich Instandhaltung und Reparatur mittlerweile nicht mehr lohnen“, sagt Karch und ergänzt: „Die Krankenkassen sind aber ohnehin nicht sonderlich interessiert daran, Lagerhaltung mit gebrauchten Hilfsmitteln zu betreiben, zumal am Ende doch vieles davon verschrottet werden muss.“
Auch das Vergaberecht kann mehr Nachhaltigkeit bewirken
Es gibt aber neben dem SGB V noch einen weiteren Hebel, der Krankenkassen als Kostenträger zwingen könnte, Nachhaltigkeitsaspekte stärker zu berücksichtigen: das nationale Vergaberecht, das für Kostenträger wie Krankenkassen oder staatlich geförderte Krankenhäuser bei der Vertragsvergabe gilt. Bislang ist die Berücksichtigung umweltbezogener Kriterien lediglich eine Kann-Bestimmung im Vergaberecht, die in der Regel durch das Wirtschaftlichkeitsgebot ausgestochen wird. Doch es gibt politische Bestrebungen, dies zu ändern und Nachhaltigkeitskriterien verpflichtend darin zu verankern.
Unterstützt wird diese Idee von Organisationen wie dem Centre for Planetary Health Policy (CPHP). Dort ist man allerdings überzeugt, dass die größten Umwelt- und Klimabelastungen nicht durch Müll, sondern in den Lieferketten von Arzneimitteln und Medizinprodukten entstehen. Zudem sieht die Berliner Denkfabrik noch viel ungenutztes Potenzial darin, Über- und Fehlversorgung durch bessere und umfassendere Prävention sowie das Vermeiden von Verschwendung zu reduzieren – Stichwort ungenutzte Arzneimittel oder auch nicht-verschreibungspflichtige Medikamente ohne nachweisliche Wirkung: „Die ‚Müllberge‘, die Gesundheits- und Pflegepersonal sowie Patient*innen täglich vor Augen haben, sind natürlich viel offensichtlicher und auch ein großes Problem in Bezug auf Ressourcen und Müll, daneben sollten die weniger sichtbaren Aspekte aber nicht vernachlässigt werden“, meint Dorothea Baltruks vom CPHP.