ADHS: Bei Erwachsenen vergehen oft Jahrzehnte bis zur Diagnose
Was man nicht alles erben kann, dachte sich wahrscheinlich die 36-jährige Mutter, die aufgrund der Diagnose ihres zehnjährigen Sohnes die ADHS-Sprechstunde der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Oldenburg aufsuchte. Sie erkenne sich in ihrem Sohn als Kind wieder, aber im Gegensatz zu ihm wurde ihren Symptomen damals keine Aufmerksamkeit geschenkt, weshalb ihre Konzentrationsschwäche und das permanente Stören des Unterrichts zu keinem guten Schulabschluss führten.
Risiko für den Nachwuchs fünf- bis neunfach erhöht
Auch als Erwachsene sorge ihre Unkonzentriertheit, Desorganisation und Impulsivität immer wieder für berufliche und private Probleme. Insbesondere seit einem kürzlich erfolgten Abteilungswechsel, der mehr Struktur und Zeitmanagement von ihr erfordere, fühle sie sich am Arbeitsplatz permanent gestresst, unsicher und überfordert.
Wie im Fallbeispiel ergeht es vielen erwachsenen ADHS-Patienten, bei denen teilweise Jahrzehnte bis zur Diagnosestellung vergehen. Die neuerdings als neuronale Entwicklungsstörung (DSM-5) klassifizierte Erkrankung beginnt im Kindesalter und persistiert bei 40–50 % der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter. ADHS hat ein fünf- bis neunfach erhöhtes Risiko, dass Vater oder Mutter es ihrem Sprössling vererben, wobei Jungen drei- bis viermal häufiger betroffen sind als Mädchen.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter, schreiben Dr. Alexandra Philomena Lam von der Biologischen Psychologie der Universität Oldenburg und ihre Kollegen. Die Betroffenen fallen durch Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität auf.
Mit der Zeit wandert die Unruhe von außen nach innen
Mit zunehmendem Alter verändert sich die Qualität der Kernsymptome, sodass beispielsweise eine frühere, nach außen sichtbare motorische Hyperaktivität in eine innere Unruhe übergeht, so die Autoren. Unbehandelt erschwert die Erkrankung insbesondere den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter – niedrigerer Bildungsstatus, Arbeitslosigkeit und erhöhte Scheidungsraten sind die Folgen. Die Mortalitätsrate verdoppelt sich v.a. infolge von Suizid oder Verkehrsunfällen.
Die Diagnose der ADHS wird klinisch gestellt, wobei die drei Kernsymptome zum Zeitpunkt der Diagnosestellung mindestens seit sechs Monaten bestehen müssen und weder durch eine andere Störung noch durch körperliche bzw. neurologische Ursachen erklärt werden können. DSM-5 und ICD-10 stimmen weitgehend in ihren Kriterien des Störungsbildes überein, wobei ersteres die Erkrankung als Entwicklungsstörung einordnet und somit die damit verbundenen zentralnervösen Reifungsprozesse mehr in den Vordergrund stellt.
Persönliche Begleiter
- Angsterkrankungen
- Persönlichkeitsstörungen
- affektive Störungen
- Substanzmissbrauch
- Essstörungen
- erhöhte Stressintoleranz
- Störung der Emotionsregulation (z.B. Affektkontrolle, emotionale Labilität)
- schlecht entwickelte Exekutivfunktionen (z.B. Planung, Zeitmanagement, Pünktlichkeit)
Jeder Verdacht erfordert eine psychiatrische Anamnese
Kommt ein Patient wie im Fallbeispiel mit einem hohen Leidensdruck in Ihre Praxis, sollten Sie also unbedingt auch nach den Hintergründen fragen, die zu dem drohenden Arbeitsplatzverlust, der Ehekrise oder dem Studienabbruch führten. Jeder ADHS-Verdacht erfordert eine psychiatrische Anamnese (inkl. Fremdanamnese). Ebenfalls ist es wichtig, bei der Diagnostik auf Komorbiditäten zu achten, da etwa 75 % der Kinder und Jugendlichen mindestens eine weitere psychische Erkrankung entwickeln. Erwachsene ADHS-Patienten haben ein 4,8-fach erhöhtes Risiko für komorbide psychische Störungen.Quelle: Lam AP et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85: 696-707