Krebs und geistige Behinderung Als Notfall diagnostiziert und untertherapiert
Die Frage, ob Menschen mit Intelligenzminderung oder mehrfacher Behinderung tatsächlich häufiger an Krebs erkranken, konnte Prof. Dr. Tanja Sappok, Krankenhaus Mara, Bielefeld-Bethel, nicht allgemeingültig beantworten. Daten einer schwedischen Studie implizieren dies unabhängig von Geschlecht und Schweregrad der Intelligenzminderung (HR 1,57), wohingegen ältere Untersuchungen keinen Unterschied zu Personen ohne Beeinträchtigung nachweisen konnten. „Scheinbar ist die Krebshäufigkeit bei älteren Menschen mit Behinderung erniedrigt, aber bei denjenigen mit einer syndromalen Ursache der Intelligenzminderung erhöht“, ergänzte die Expertin hinsichtlich der widersprüchlichen Daten. Dabei gibt es auch entitätsspezifische Unterschiede.
„Die krebsassoziierte Mortalität ist für Menschen mit einer Intelligenzminderung deutlich erhöht“, stellte die Referentin klar, und dies gelte für diverse Tumortypen. Einerseits spielen Lebensstilfaktoren eine Rolle:
- sitzende Lebensweise
- verminderte körperliche Aktivität
- Ernährung
- Übergewicht
- chronischer gastroösophagealer Reflux
Andererseits gehen angeborene Veränderungen in tumorassoziierten Genen in einem Drittel der Fälle mit einer Intelligenzminderung einher. Dies betrifft beispielsweise Chromosomen-Instabilitätssyndrome oder RASopathien wie das Noonan-Syndrom. Verschiedene syndromale Auslöser einer kognitiven Beeinträchtigung verursachen spezifische Prädispositionen. So ist etwa bei Menschen mit Down-Syndrom das Risiko für akute Leukämien und Hodenkrebs insbesondere in jungen Jahren erhöht.
„Tragischerweise ist die Diagnostik trotz der erhöhten Prävalenz oft verzögert“, kritisierte die Ärztin. Ein Problem bestehe im „Diagnostic Overshadowing“, bei dem Beschwerden fälschlicherweise der Behinderung zugeschrieben werden. Gemäß einer Studie aus Großbritannien entdeckten Mediziner:innen bei 35 % derjenigen, die später an oder mit Krebs starben, das Malignom erst im Rahmen eines medizinischen Notfalls. 45 % der Patient:innen mit Intelligenzminderung hatten zum Diagnosezeitpunkt bereits einen Tumor im Stadium IV.
„Menschen mit Behinderung werden nicht nur später diagnostiziert, sondern auch schlechter behandelt“, fuhr die Kollegin fort. Eine Auswertung von Fallberichten bildet ab, dass etwa ein Drittel der Krebspatient:innen mit kognitiven Einschränkungen nicht die reguläre Behandlung erhält. Dies kann in spezifischen genetischen Vulnerabilitäten begründet liegen, wurde aber auch durch Probleme mit Verhalten und Compliance gerechtfertigt. „Sie werden seltener operiert, seltener bestrahlt und bekommen seltener Chemotherapien“, fasste Prof. Sappok zusammen. Zur Schmerzlinderung erhielten Betroffene weniger COX-Hemmer und schwache Opioide, dafür häufiger Paracetamol sowie Antidepressiva und Anxiolytika.
Herausforderungen bei Intelligenzminderung
Strukturelle Faktoren:
- Gesetzgebung, politische Faktoren
- fehlende Finanzierung
- fehlender Transport
Soziale Faktoren:
- reduzierte Unterstützung
Patient:innenbezogene Faktoren:
- Angst
- geringere Gesundheitskompetenz
- kommunikative Barrieren
- Diagnostic Overshadowing
- eingeschränkte Coping-Fähigkeiten
- Komorbiditäten
Hindernisse im Gesundheitswesen:
- Barrieren im Zugang
- unzureichendes Wissen
- fehlende Leitlinien
- diskriminierende Einstellungen
Auch hinsichtlich der Früherkennung lassen sich gemäß der Neurologin Unterschiede feststellen: „Menschen mit Behinderungen nehmen seltener an Vorsorgeuntersuchungen teil. Das bezieht sich sowohl auf das Mammografiescreening als auch den PAP-Abstrich und Koloskopien.“ So gingen in Dänemark nur 25 % der Berechtigten mit geistiger Beeinträchtigung zum Mammografiescreening, verglichen mit 62 % in der Allgemeinbevölkerung. Einer koreanischen Studie nach nahmen Personen mit angeborener Intelligenzminderung, erworbenen Hirnschädigungen und Autismus-Spektrum-Störungen sogar seltener an Früherkennungsuntersuchungen teil als Menschen mit anderen Formen einer Behinderung.
Zusammenfassend existieren in der Versorgung von Erkrankten mit Intelligenzminderung zahlreiche strukturelle, soziale und patient:innenbezogene Herausforderungen. „Man braucht mehr Menschen, die unterstützen, Kommunikationshilfen, mehr Zeit und mehr Zusammenarbeit“, beschrieb Prof. Sappok. In der Praxis sei beispielsweise Angst ein großes Thema. Folgende Ansätze können ihrer Erfahrung nach helfen:
- Erkrankte an Behandlungsroutinen gewöhnen
- Bezugspersonen einbeziehen
- Vertrauensverhältnis zwischen Betroffenen und medizinischem Personal aufbauen
- überlegen, wodurch man zur Kooperation motivieren kann
Allgemein wünscht sich die Fachfrau sowohl eine bessere Betreuung im Rahmen der Regelversorgung als auch den weiteren Ausbau spezialisierter Zentren.
Quelle: Sappok T. DKK 2024; Vortrag „Herausforderungen der onkologischen Versorgung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen“