Erkrankte mit Intelligenzminderung „Habt keine Angst davor, ungewöhnliche Wege zu gehen“

Autor: Lara Sommer

Nicht alle Barrieren im Gesundheitssystem sind so offensichtlich wie eine Treppe. Nicht alle Barrieren im Gesundheitssystem sind so offensichtlich wie eine Treppe. © megaflopp - stock.adobe.com

Menschen mit Intelligenzminderung erhalten weiter eine schlechtere medizinische Versorgung. Prof. Dr. Tanja Sappok schildert, wo Barrieren existieren, wie eine gemeinsame Entscheidungsfindung gelingt und warum man manchmal um die Ecke denken muss.

Welche besonderen Bedürfnisse haben Menschen mit kognitiven oder multiplen Einschränkungen im klinischen Alltag?

Prof. Dr. Tanja Sappok: Diese Personengruppe hat vielfältigste besondere Bedürfnisse. Ein Aspekt ist die Kommunikation, insbesondere bei Menschen, die nicht sprechen oder sich nur eingeschränkt äußern können. Darüber hinaus geht eine Intelligenzminderung oft auch mit Verzögerungen in der sozio­emotionalen Entwicklung einher. In diesen Bereich fallen beispielsweise adaptive Fähigkeiten und Stressregulation, was wiederum mit herausforderndem Verhalten und zusätzlichen psychischen Erkrankungen zusammenhängt.

Menschen mit Behinderungen sind oft in ein komplexes Hilfesys­tem eingebunden, sowohl institutionell als auch im Familienkreis. Ärzt:innen sollten dieses nicht nur berücksichtigen, sondern auch für die medizinische Versorgung nutzen. Dort sind häufig viele Informationen vorhanden.

Nicht zuletzt liegen bei vielen Betroffenen seltene genetische Syndrome oder individuelle Konstellationen als Ursache der Behinderung vor. Für eine gute Betreuung benötigt man Kenntnisse zu diesen Krankheitsbildern, die nicht unbedingt in der medizinischen Grundausbildung vermittelt werden.

Wie steht es um die onkologische Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung oder mehrfacher Behinderung?

Prof. Sappok: Krebs wird bei Menschen mit kognitiven Behinderungen häufig in fortgeschrittenen Stadien diagnostiziert, ungefähr die Hälfte im Stadium IV. Oft führen erst akute medizinische Notfälle zur klinischen Vorstellung, beispielsweise, dass jemand keine Nahrung mehr bei sich behält.

Was führt zu verspäteten Diagnosen bei diesem Personenkreis?

Prof. Sappok: Es beginnt schon damit, dass diese Gruppe Vorsorgeuntersuchungen seltener wahrnimmt. Dazu gibt es Daten aus vielen Ländern. Hinzu kommen strukturelle Faktoren, die eine Diagnoseverzögerung bewirken können, beispielsweise fehlende Finanzierung oder fehlender Transport zu Untersuchungen. Menschen mit Beeinträchtigungen können zudem oft nicht allein die Arztpraxis aufsuchen, und wenn die Begleitung fehlt, kommt es nicht zur Vorstellung.

Patient:innenbezogene Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, darunter Angst und eine reduzierte Gesundheitskompetenz. Kommunikative Schwierigkeiten können dazu führen, dass Schmerzen nicht erkannt werden oder Probleme erst auffallen, wenn sie zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen führen. Auch schreiben Kolleg:innen Beschwerden oft der Behinderung zu und erkennen die zusätzliche körperliche Erkrankung nicht.

Inwiefern kommen Hindernisse im Gesundheitssystem hinzu?

Prof. Sappok: Vielfältige Barrieren im Gesundheitssystem verzögern das frühzeitige Erkennen und die Versorgung von Krebserkrankungen oder machen dies sogar unmöglich. Dazu zählen Schwierigkeiten mit dem Anmeldeprozedere, unzureichendes Wissen von Fachkräften, fehlende Leitlinien und zum Teil auch diskriminierende Einstellungen. Ich erlebe es noch immer, dass Ärzt:innen Menschen mit Behinderungen nicht in ihrer Praxis haben wollen oder sich nicht in der Lage sehen, diese zu behandeln. Als Begründung geben sie beispielsweise an, Betroffene seien „nicht wartezimmerfähig“ oder würden die Abläufe auf Station zu sehr stören.

Besteht eine Unterversorgung derjenigen mit behandelbaren Krankheitsstadien?

Prof. Sappok: Ja, und das lässt sich gut belegen. Krebskranke Menschen mit Behinderungen werden weniger operiert, bekommen seltener Chemotherapie und Bestrahlung. Sie sind außerdem schmerzmedizinisch schlechter versorgt und erhalten zu diesem Zweck häufiger Anxiolytika oder Antidepressiva als Menschen ohne Beeinträchtigung.

Die Umsetzung einer Krebstherapie kann sich allerdings auch herausfordernder gestalten. Teilweise müssen Erkrankte in eine andere Wohnform umziehen oder brauchen während der Behandlung im Krankenhaus sehr viel mehr Unterstützung. Die Versorgung zu gewährleis­ten erfordert dann einen intensiven Austausch zwischen behandelnden Ärzt:innen, dem Pflegepersonal und dem Betreuungsteam zu Hause. Teilweise muss man ungewöhnliche Lösungen anstreben, z.B. eine intravenöse Behandlung im Krankenzimmer durchführen oder das Setting anderweitig anpassen.

Wie bezieht man Erkrankte bestmöglich in Entscheidungen ein? 

Prof. Sappok: Zuerst muss man aus meiner Sicht Ängste abbauen und eine gemeinsame Kommunikationsebene finden. Wenn eine gute Basis vorliegt, kommt man zum eigentlichen Kern, der gemeinsamen informierten Entscheidungsfindung. Ich glaube, dass bei vielen Patient:innen eine Einbeziehung des natürlichen Willens möglich ist, wenn eine vertrauensvolle Beziehung existiert und man weiß, wie man die Kommunikation am besten gestaltet. Zur partizipativen Entscheidungsfindung gehört aber auch, aus ärztlicher Sicht falsche Entscheidungen zu akzeptieren.

Kasuistik: So geht gemeinsame Entscheidungsfindung

Prof. Sappok schilderte folgenden Fall aus ihrer Klinik: 

„Zu uns ist eine Dame mittleren Alters gekommen, die an einem Tumor des gastro­ösophagealen Übergangs litt, welcher die Speiseröhre komplett verlegte. Um eine Operabilität zu erreichen, müsste sie zunächst bestrahlt werden. Die rechtliche Betreuerin der Frau hat geäußert, sie wolle ihr die Krebsbehandlung nicht zumuten, und sprach sich dagegen aus. Hinzu kam die Wohnsituation der Erkrankten, die bisher nur aufsuchend unterstützt wurde.

Wir haben eine Ethikkonferenz einberufen, bei der alle Beteiligten inklusive der Patientin mit am Tisch saßen. Es wurde genau aufgedröselt, was nötig wäre, um die Therapie umsetzen zu können. Dazu zählte auch der Umzug in eine Einrichtung der Kurzzeitpflege für die Dauer der Behandlung. Die Betroffene hat sich sehr bewusst dafür entschieden, diesen schwierigen Weg zu gehen und die Betreuerin trägt es mit.

Die Ethikkonferenz bildete eine gute Grundlage, um auch bei dieser Patientin doch noch einen kurativen Ansatz zu verfolgen. Das ist in solchen Fällen komplizierter, weil viele Akteure ins Boot geholt werden müssen. Deshalb hätten wir die Entscheidung nicht in einem Einzelgespräch treffen können.“

Was müsste sich für eine angemessene Versorgung im Gesundheitssystem ändern?

Prof. Sappok: Viel wäre damit geholfen, wenn die Finanzierung des zeitlichen und organisatorischen Mehrbedarfs geklärt wäre. Ist diese sichergestellt, könnten auch entsprechende Rahmenbedingungen in der ambulanten und stationären Versorgung geschaffen werden.

Der Transport zur Klinik beziehungsweise Besuche im häuslichen Umfeld führen ebenfalls immer wieder zu erheblichen Schwierigkeiten.Verbessern würde es die Situation schon, wenn der Weg zu Ärzt:innen sichergestellt wäre oder diese ihre Fahrt refinanziert erhielten. 

Ein weiteres zentrales Element besteht in der verbesserten Aus-und Weiterbildung aller im Gesundheitssystem Tätigen. Ärzt:innen, aber auch Pflegende und Therapeut:innen sollten schon im Rahmen der Grundausbildung Kontakt zu diesem Personenkreis haben. Dadurch lassen sich viele Berührungsängste und Unsicherheiten aus dem Weg räumen. 

Zuletzt sind Menschen mit Behinderungen noch immer oft von Studien ausgeschlossen. Im Bereich der Forschung muss sich einiges verbessern, um auch diesen Personen spezifische leitliniengerechte Therapien anbieten zu können.

Wie können sich Mediziner:innen zur Versorgung von Menschen mit Behinderungen fortbilden?

Prof. Sappok: Seit einigen Jahren gibt es von der Bundesärztekammer das Curriculum „Medizin für Menschen mit geistiger und/oder schwerer Mehrfachbehinderung“. Es handelt sich um ein berufsbegleitendes Programm im Umfang von etwa 100 Fortbildungseinheiten, das in einem Zertifikat mündet. Dazu gehört auch ein Praktikum.

Welche Tipps können Sie für den Umgang mit kognitiv beeinträchtigten Patient:innen mitgeben?

Prof. Sappok: Während der Untersuchung sollten Ärzt:innen sich Zeit nehmen, gut zuhören, sorgfältig beobachten und auch das in die Beurteilung einfließen lassen. Oft lese ich in Befunden „Patient nicht kooperativ – körperliche Untersuchung nicht möglich“. Durch genaue Beobachtung und Einbeziehung des betreuenden Umfelds lässt sich jedoch schon viel an grundlegender Anamnese ermöglichen: Wenn jemand selbst zur Tür hereinkommt weiß man, dass er oder sie gehen kann. Wird die Person im Rollstuhl geschoben, kann ich fragen, weshalb. Allgemein möchte ich Kolleg:innen ermutigen, keine Angst zu haben, sich auf die Situation einzulassen und auch ungewöhnliche Wege zu gehen.