MS-Therapie Bei Älteren Fuß vom Gas

Autor: Birgit Maronde

Prospektive Studien zeigen, dass eine frühe intensive MS-Therapie der Eskalationstherapie überlegen ist. Prospektive Studien zeigen, dass eine frühe intensive MS-Therapie der Eskalationstherapie überlegen ist. © lexiconimages – stock.adobe.com

Der frühe Einsatz hochwirksamer Medikamente führt bei der Multiplen Sklerose zu deutlich besseren Langzeitergebnissen als die Eskalationstherapie. Doch es stellt sich die Frage, ob und wann die Immuntherapeutika wieder abgesetzt werden können. Neuere Studien liefern Anhaltspunkte.

Zur MS-Therapie nach dem Motto „hit hard and early“ gibt es bislang keine prospektiven Langzeitstudien, was die Gegner dieser Strategie als Contra-Argument ins Feld führen. Doch prospektive Studien wird es nicht geben, niemand finanziert sie, erklärte Prof. Dr. Volker Limmroth, Klinik für Neurologie, Köln-Merheim. Man müsse daher auf die vorhandenen retrospektiven Registerstudien mit Daten von mittlerweile Tausenden von Patienten schauen.

So wurde z.B. auf Basis des finnischen MS-Registers das Risiko für eine Progression der schubförmig remittierenden MS (RRMS) sowie die Zeit bis zum ersten Schub unter verschiedenen Therapeutika ermittelt. In 154 Fällen startete die Behandlung mit Natalizumab, Alemtuzumab, Ocrelizumab oder Rituximab. 1771 Patienten erhielten primär moderat wirksame Substanzen – Interferone, Glatirameracetat, Teriflunomid, Dimethylfumarat – zum Einsatz, bei Bedarf wurde eskaliert. Die Wahrscheinlichkeit einer gesicherten Progression fünf Jahre nach Behandlungsbeginn lag in der von Beginn an hochaktiv behandelten Gruppe bei 28,4 %, in der Vergleichsgruppe dagegen bei 47 %. Das Schubrisiko betrug 34,6 % versus 47,2 %. Die Unterschiede waren signifikant.

Eine italienische Arbeit, die auf dem europäischen Fachkongress ECTRIMS 2023 vorgestellt wurde, lieferte Resultate über zehn Jahre. Auch sie bestätigt die Überlegenheit einer frühen intensiven gegenüber einer herkömmlichen Eskalationstherapie, sagte Prof. Limmroth. 914 Patienten hatten als erste krankheitsmodulierende Behandlung eine hochwirksame Substanz erhalten, 3.964 eine Eskalationstherapie. Die jährliche Verschlechterung in der Skala zur Erfassung der Behinderung (EDSS) fiel unter der hochintensiven Therapie signifikant geringer aus. Die mittlere Differenz zwischen den beiden Gruppen stieg von 0,16 nach dem ersten Behandlungsjahr auf 0,46 nach fünf und 0,63 nach zehn Jahren. 

RRMS-Patienten profitieren von einer frühen hochwirksame Behandlung auch auf lange Sicht – darüber brauche man nicht mehr zu diskutieren, meinte der Neurologe. Man müsse sich jedoch vor Augen halten, dass die Effekte selbst der wirksamsten Medikamente mit zunehmendem Alter nachlässt

Gemäß einer ebenfalls beim ECTRIMS 2023 vorgestellten Studie auf Basis des italienischen MS-Registers ist ab einem Alter von 45 Jahren kein Vorteil mehr vom Therapiestart mit hochwirksamen Medikamenten im Vergleich zur Basistherapie zu erwarten. Das Beibehalten einer hochwirksamen Therapie erscheint mit zunehmenden Alter ebenfalls nicht unbedingt sinnvoll, wie eine US-amerikanische Arbeitsgruppe 2022 darlegte. Sie plädierte dafür, die Behandlung der MS mit hochwirksamen Medikamenten zu starten, um eine deutliche Reduktion der Krankheitsaktivität zu erzielen. Mit zunehmendem Alter, zurückgehender Krankheitsaktivität und steigenden Nebenwirkungsraten solle man aber schrittweise zu besser verträglichen Therapeutika wechseln. Die geringere Wirksamkeit dieser Medikamente mache sich im höheren Alter kaum noch bemerkbar. Dies gelte insbesondere ab 50.    

Die Folgen eines Absetzens von Immunmodulatoren wurden in einer Studie mit 130 MS-Patienten erfasst. Bei 78 von ihnen kam es im medianen Verlauf von knapp 60 Monaten zum Wiederaufflammen der Krankheitsaktivität, was sich in 63 Fällen auch in der MRT erkennen ließ. 40 Patienten entwickelten einen erneuten Schub. Ein höheres Alter zum Absetzzeitpunkt (> 55 Jahre) ging im Vergleich zu einem jüngeren (< 45 Jahre) mit einem signifikant niedrigeren Risiko einher, in der MRT Zeichen für Krankheitsaktivität zu finden. Das Schubrisiko war ebenfalls signifikant erniedrigt. 

In einer prospektiven randomisierten und kontrollierten Studie hat man das Absetzen der krankheitsmodulierenden Immuntherapie bei 259 MS-Patienten ab 55 Jahren überprüft. Alle waren in den fünf Jahren zuvor ohne Schub geblieben und hatten in den vorangegangenen drei Jahren unter kontinuierlicher Behandlung in der MRT keine Krankheitsaktivität gezeigt. 128 Patienten behielten ihre Therapie bei, bei 131 wurde sie beendet.   

Im Follow-up-Zeitraum von zwei Jahren entwickelten unter fortgesetzter Behandlung sechs Patienten (4,7 %) Zeichen von Krankheitsaktivität, in der Absetzgruppe waren es 16 (12,2 %). Allerdings sind 12 % in zwei Jahren nicht wirklich viel, sagte  Prof. Limmroth. Keine Unterschiede ergab eine Subgruppenanalyse der Daten von Patienten über 65 Jahre. Wahrscheinlich könne man ab Mitte 60 „den Fuß vom Gas nehmen“, kommentierte der Kollege.  

Quelle: Kongressbericht 16. Neurologie-Update-Seminar