Geschlechtsangleichung Damit die Pubertät nicht zum Albtraum wird

Autor: Nina Arndt

Der Leidensdruck der Betroffenen ist oft hoch. Dennoch sollten medizinische Maßnahmen nicht zu früh starten. (Agenturfoto) Der Leidensdruck der Betroffenen ist oft hoch. Dennoch sollten medizinische Maßnahmen nicht zu früh starten. (Agenturfoto) © rushay – stock.adobe.com

Wenn sich das Geschlecht, das man bei der Geburt zugewiesen bekommen hat, falsch anfühlt, verursacht das oft großes Leid. Den Betroffenen sollte frühzeitig geholfen werden – doch bei Minderjährigen ist das ein sensibles Thema. Es gilt, zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Kinder und Jugendlichen sowie der Fürsorgepflicht der Erwachsenen abzuwägen.

Die meisten Menschen zeigen bereits zwischen drei und sechs Jahren eine Geschlechtskonstanz. So berichten erwachsene trans Menschen fast immer, dass sie sich schon im Kindesalter nicht mit ihrem zugeschriebenen Geschlecht identifizierten. Doch nicht bei allen Kindern und Jugendlichen, die eine Geschlechtsinkongruenz oder -varianz zeigen, besteht die Transgeschlechtlichkeit fort. Daher ist es wichtig, dass man nur denen eine Behandlung zukommen lässt, die das später nicht bereuen.

Aktuelle Therapie- und Behandlungsempfehlungen lassen sich bald in der S2k-Leitlinie zur Behandlung von Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter finden. Auf einer Pressekonferenz sowie bei einer Online-Fortbildung äußerten sich Experten zum Inhalt der Leitlinie und dazu, was generell bei der Betreuung von Minderjährigen mit Genderdysphorie zu beachten ist.

Inkongruenz vs. Dysphorie

Menschen mit einer Geschlechtsinkongruenz identifizieren sich nicht – oder nur zum Teil – mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Ist diese Inkongruenz mit einem Leidensdruck verbunden, spricht man von Genderdysphorie.

Psychotherapeutische Begleitung

„Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper beginnt nicht erst mit 18 Jahren“, erklärte Leitlinienautorin Prof. Dr. Claudia Wiesemann von der Georg-August-Universität Göttingen. Auch Kinder und Jugendliche haben dieses Recht, wenn sie urteilsfähig sind und mögliche Konsequenzen verstehen. Eltern und medizinisches Fachpersonal haben allerdings eine Fürsorgepflicht, demnach müssen sie die Minderjährigen vor fehlerhaften Entscheidungen und Schaden schützen.

Outen sich trans Kinder, sollte man ihnen unterstützend-affirmativ und ergebnissoffen begegnen. „Das ist kein Widerspruch“, erklärte Leitlinienautorin Dr. Dagmar Pauli von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie empfahl zum einen, die jungen Menschen in ihrer Identität zu validieren: Über ihre Geschlechtsidentität sollen die Kinder und Jugendlichen selbst bestimmen dürfen – auch wenn dies noch nicht für medizinische Maßnahmen gilt. Das bedeutet auch, dass man in Absprache mit den Eltern die gewünschten Pronomen respektiert.

Zum anderen riet Dr. Pauli, sich mit der medizinischen Behandlung Zeit zu lassen. Denn manche Jugendlichen entscheiden sich doch noch um oder gehen einen nicht-binären Weg: Rund 20 % der Jugendlichen in Gendersprechstunden identifizieren sich als nicht-binär. Daher ist es wichtig, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen.

Zudem sollte man die Eltern mit ins Boot holen, so Dr. Pauli. In der Regel sind diese nicht per se gegen eine Transition, sondern befürchten, ihr Kind könnte die Entscheidung später bereuen. In solch einem Fall ist davon abzuraten, bei älteren Jugendlichen aufgrund von Urteilsfähigkeit die Behandlung ohne Zustimmung der Eltern durchzuführen. Einer der wichtigsten Faktoren für die psychische Gesundheit sei nämlich nicht die medizinische Behandlung, sondern die Unterstützung durch die Eltern, erklärte Dr. Pauli.

Medizinische Behandlung

Vor einer medizinischen Behandlung muss laut Leitlinie zunächst eine umfassende diagnostische Einschätzung erfolgen. Eine Geschlechtsinkongruenz sollte konstant seit vielen Jahren vorliegen. Entwickelt sich die Geschlechtsinkongruenz erst spät, ist die neue Geschlechtsidentität eventuell noch instabil. Einschränkend merkte Dr. Pauli an, dass man eine Transgeschlechtlichkeit nicht immer von außen sieht, unter anderem weil das Umfeld diese möglicherweise nicht duldet. 

Ebenfalls entscheidend ist die Intensität der Inkongruenz: Hat das Kind bereits eine soziale Transition vollzogen? Wie hoch ist der Leidensdruck, und wie sind der psychische und der körperliche Entwicklungsstand? Beispielsweise kann man bei Pubertäts-„Spätzündern“ auch ruhig etwas später intervenieren. 

Alles nur ein Hype?

Immer mehr Menschen identifizieren sich als transgender. Dafür gibt es verschiedene Gründe, erklärte Dr. Dagmar Pauli von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Jugendliche beschäftigen sich heutzutage mehr mit dem Thema Transidentität. In früheren Generationen setzte man sich zwar mit der eigenen sexuellen Orientierung auseinander, aber meist nicht mit der Geschlechtsidentität. Diejenigen, die sich damit befassten, trauten sich seltener, darüber zu sprechen. Ein Outing erfolgte, wenn überhaupt, dann häufig erst im Erwachsenenalter. Mittlerweile tritt eine Geschlechtsinkongruenz also früher zutage – man könne aber nicht davon ausgehen, dass es sich dabei nur um einen Hype handelt, von dem sich Kinder und Jugendliche anstecken lassen, so Dr. Pauli.

Bei Kindern, die bei der Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurden, zeigt sich die Geschlechtsinkongruenz oft bereits im Kindesalter. Bei denjenigen, bei denen das weibliche Geburtsgeschlecht eingetragen wurde, tritt die Inkongruenz dagegen häufig erst im Jugendalter offen zutage. Denn Jungen, die sich „feminin“ verhalten und weibliche Vorlieben zeigen, fallen den Eltern schneller auf. Bei Mädchen akzeptiert man hingegen, wenn diese sich „jungenhaft“ verhalten, erklärte Dr. Pauli. Das große Leid beginne für trans Jungen daher oft erst mit der Pubertät.

Bei gegebener Indikation kann die medizinische Behandlung Pubertätsblocker (GnRH*-Analoga), eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung sowie Antiandrogene bzw. gestagenhaltige Präparate umfassen. Der Einsatz von Pubertätsblockern ist umstritten. Sie aufgrund potenzieller Nebenwirkungen prinzipiell zu verweigern, sei aber medizinisch und ethisch unangemessen, erklärte Prof. Wiesemann. Im Vergleich zur psychischen Krisensituation seien die Nebenwirkungen für die Betroffenen in aller Regel unerheblich. Ferner werden die Präparate seit Jahrzehnten auch bei Pubertas praecox eingesetzt, wie Dr. Pauli anmerkte. Starten sollte man die Behandlung mit den Blockern allerdings erst nach Pubertätsbeginn, ab Tanner-Stadium 2/3, wenn bei Mädchen das Brustwachstum einsetzt und bei Jungen sich die Hoden vergrößern, es aber noch nicht zum Stimmbruch gekommen ist.

„Wir haben uns bewusst von starren Altersgrenzen ferngehalten“, erklärte Leitlinienautor Dr. Achim Wüsthof vom Endokrinologikum Hamburg. Wichtig ist ihm zufolge, dass keine präventive Pubertätsblockade stattfindet, denn der Körper muss die Sexualhormone anfangs spüren. So können sich die Jugendlichen mit der beginnenden Vermännlichung bzw. Verweiblichung auseinandersetzen und entscheiden, ob sich der Prozess wirklich falsch anfühlt. Denn es gibt seltene Fälle, bei denen die Geschlechtsidentität dann noch einmal ins Wanken kommt.

Da unter den Pubertätsblockern irreversible körperliche Veränderungen vermieden werden, ist das kosmetische Outcome besser, als wenn mit den medizinischen Maßnahmen erst nach der Pubertät begonnen wird. Trans Menschen, die frühzeitig mit der Behandlung anfangen, werden daher weniger stigmatisiert.

„Bei fortgeschrittener Pubertät bringen Pubertätsblocker hingegen nichts“, so Dr. Wüsthof. Der Einsatz sei sinnvoll, wenn noch keine irreversiblen körperlichen Veränderungen stattgefunden haben, etwa die Entwicklung einer großen Brust. Mit den Blockern kann man zwar eine gewisse Brustreduktion erreichen, aber das ist ein relativ geringer Benefit für die Betroffenen. Aufgrund des abfallenden Estradiols leiden trans Jungen oft an Hitzewallungen. Um zu verhindern, dass es bei ihnen zur Menstruation kommt, können Gelbkörperhormone eingesetzt werden. Bei älteren trans Mädchen bieten sich Antiandrogene an.

Am Ende der Jugendphase, etwa zwischen 15 und 17 Jahren, kann dann eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung begonnen werden. Schätzungen zufolge erhalten über 90 % der Jugendlichen, die Pubertätsblocker genommen haben, auch eine geschlechtsangleichende Hormontherapie.

Operative Geschlechtsangleichungen können folgen, laut der WPATH** sollte dazu aber die Volljährigkeit erreicht sein. In Deutschland sind chirurgische Eingriffe bereits früher möglich. Die Zufriedenheit nach einer solchen Operation ist in der Regel hoch (80–90 % bei Brust- oder Genital-OPs), wie eine Studie aus Australien zeigte. Eine weitere Untersuchung aus den USA ergab, dass sich Kongruenz, Depression und Angststörung umso stärker verbessern, je mehr geschlechtsangleichende Maßnahmen die Betroffenen abschließen.

* Gonadotropin-Releasing-Hormon
** World Professional Association for Transgender Health

Quelle: Medical-Tribune-Bericht
1. Digitale Pressekonferenz „AWMF-Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter“; Veranstalter: Science Media Center Germany
2. Online-Veranstaltung „Transgender“ vom 21.03.2024, streamed-up.com