Psychische Gewalt Das, was man nicht sieht
Worte hinterlassen keine blauen Flecken. Sie können dennoch tief in eine Kinderseele eindringen und das Gefühl vermitteln, wertlos, ungeliebt und unerwünscht zu sein. Dabei sind die Folgen psychischer Gewalt ähnlich gravierend wie die anderer Missbrauchsformen – vielleicht sogar noch schwerwiegender.
Psychische Misshandlung ist definiert als ein sich wiederholendes Verhaltensmuster oder ein extremes Vorkommnis im Zusammenhang mit einer Bezugsperson, das den seelischen Grundbedürfnissen des Kindes (z.B. Sicherheit, Sozialisierung, emotionale und soziale Unterstützung, kognitive Stimulation und Respekt) zuwiderläuft. Dabei steht eine psychische Misshandlung oft unmittelbar mit anderen Arten von Missbrauch in Verbindung, erklären Dr. Andreas Witt von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie des Uniklinikums Ulm und Kollegen.
Ihre Ergebnisse stützen sich auf Erhebungen aus den Jahren 2010 und 2016. Sie berücksichtigen die Auskünfte von 5.014 Jugendlichen und Erwachsenen zu erlebten psychischen und körperlichen Misshandlungen, sexuellem Missbrauch sowie emotionaler und körperlicher Vernachlässigung. Auch Informationen zur psychischen Gesundheit flossen ein. Die Befragung erfolgte mittels standardisierter Formulare und basierte somit auf der Selbstwahrnehmung der Befragten.
Ein Fehlverhalten kommt selten allein
Wie sich zeigte, standen alle untersuchten Arten von Fehlverhalten miteinander in Zusammenhang. Besonders stark korrelierte psychische mit körperlicher Misshandlung. Hatte ein Kind psychische Misshandlung erlebt, so stieg auch deutlich das Risiko für gleichzeitige körperliche und emotionale Vernachlässigung sowie sexuellen Missbrauch.
Alle Misshandlungsformen konnten signifikant mit mentalen Folgen wie Ängstlichkeit und Depressivität in Verbindung gebracht werden. Den größten Effekt hatte dabei wiederum psychische Gewalt: Sie steigerte das Risiko der Studienteilnehmer, im späteren Leben ängstlich zu sein, um das 8,5-Fache. Die Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu entwickeln, war durch das Erlebte sechsfach erhöht. Je mehr Formen von Misshandlung ein Kind ausgesetzt war, desto größer die Gefahr, dass es später eine der beiden psychischen Auffälligkeiten entwickelte.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass im Hinblick auf Prävention von und Intervention bei psychischer Gewalt dieselbe Aufmerksamkeit zuteil werden müsse wie anderen Formen der Kindesmisshandlung. Gerade medizinisches Personal dürfe sich diagnostisch nicht auf rein körperliche Anhaltspunkte beschränken. Es müsse genauso darauf geachtet werden, wie Eltern und Kinder miteinander agieren.
Quelle: Witt A et al. Monatsschr Kinderheilkd 2021; 169: 613-621; DOI: 10.1007/s00112-021-01183-z