Typ-1-Diabetes Geschlechtsunterschiede manifestieren sich bereits in der Kindheit
Gemeinsam mit Forschenden aus Rotterdam ging Silvia de Vries von der Abteilung für Gefäßmedizin der Universität Amsterdam der Frage nach, inwiefern sich bereits in jungen Jahren ein Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und Patienten- bzw. Krankheitscharakteristika, der Behandlung, Komorbiditäten oder Komplikationen nachweisen lässt. Die Wissenschaftler*innen identifizierten hierzu 90 thematisch relevante Studien an Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, die Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Endpunktparameter beschrieben hatten. In allen Fällen handelte es sich um beobachtende Untersuchungen wie Kohorten-, Querschnitt- und Fall-Kontroll-Studien. Qualitative Studien, Fallberichte/Fallserien, Übersichtsarbeiten und Metaanalysen wurden ausgeschlossen.
Ungünstigere Konstellationen bei Mädchen
In die Auswertung flossen die Daten von 643.217 Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes ein. Die Analyse zeigte, dass Mädchen im Vorfeld der Diabetesdiagnose häufiger als Jungen länger als vier Wochen unter Symptomen gelitten hatten und häufiger GAD-Autoantikörper oder GAD65-Antikörper sowie höhere Inselzellantikörpertiter aufwiesen. Mädchen hatten ferner einen höheren Body-Mass-Index, waren überproportional häufig übergewichtig oder adipös und litten häufiger an einer Dyslipidämie. Die Jungen durchliefen dagegen häufiger eine partielle Remissionsphase, welche zudem länger anhielt. Auch bezüglich der glykämischen Kontrolle waren die Mädchen deutlich im Nachteil: Sie wiesen sowohl zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose als auch während der Therapie erhöhte HbA1c-Werte auf und entwickelten im Zeitverlauf einen steileren HbA1c-Anstieg.
Geringere Insulinsensitivität während der Pubertät
Als Grund für den höheren Insulinbedarf der Mädchen führen die Forschenden die vermehrte Ausschüttung weiblicher Geschlechtshormone während der Pubertät an. Diese Hormon-spitzen können die Insulinsensitivität beeinträchtigen – und zwar nicht nur bei Mädchen mit Typ-1-Diabetes, sondern auch bei Stoffwechselgesunden. Letztere können dies allerdings durch vermehrte endogene Sekretion von Insulin kompensieren. Bei Typ-1-Diabetes hingegen führt das Phänomen zu vermehrtem Insulinbedarf, woraus unter Umständen eine ungünstigere Stoffwechsellage resultieren kann. Allerdings geben die Forschenden zu bedenken, dass höhere Insulindosen ebenso Folge höherer Glukosewerte sein könnten.
Im Hinblick auf die Diabetestherapie zeigten sich ebenfalls deutliche Geschlechtsunterschiede: Bereits in den ersten Tagen nach der Diagnose, aber auch im weiteren Behandlungsverlauf benötigten die weiblichen Studienteilnehmenden höhere Insulindosen (siehe Kasten). Zudem erhielten sie häufiger als die Jungen eine Insulinpumpentherapie. Die Jungen hatten ein höheres Risiko für schwere Hypoglykämien, wogegen die Mädchen häufiger eine Ketoazidose entwickelten und häufiger stationär behandelt werden mussten. Verschiedene Begleiterkrankungen, darunter Schilddrüsenfunktionsstörungen und Zöliakie, beobachteten die Wissenschaftler*innen häufiger beim weiblichen Geschlecht. Weiterhin kamen zahlreiche Studien zu dem Ergebnis, dass Mädchen insgesamt deutlich stärkere Einschränkungen der Lebensqualität erfuhren als Jungen.
Durch Forschung die Ursachen für Unterschiede verstehen
Um Menschen mit Diabetes Typ 1 optimal behandeln und Langzeitkomplikationen vorbeugen zu können, ist es wichtig, Geschlechtsunterschiede aufzudecken und ihre Ursachen zu verstehen, so die Forschenden. Sie hoffen, dass insbesondere die offenbar bezüglich des Diabetesverlaufs benachteiligten Mädchen zukünftig von entsprechenden Forschungsanstrengungen profitieren. Einschränkend geben sie zu bedenken, dass Studien mit neutralen Ergebnissen bzw. nur geringfügigen Geschlechtsunterschieden bei ihrer Analyse nicht berücksichtigt wurden. Zudem seien angesichts des beobachtenden Studiendesigns keine Rückschlüsse auf mögliche Kausalzusammenhänge zwischen dem Geschlecht und den klinischen Ergebnissen zulässig.
Literatur:
de Vries SAG et al. Diabetologia. 2023; 66(4): 618–630; doi: 10.1007/s00125-022-05866-4