Traumatisierung komplexer denken Die ICD-11 bringt Neuerungen bei den belastungsbezogenen Störungen

DGPPN 2024 Autor: Friederike Klein

Neben der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wird künftig auch die Diagnose der „komplexen PTBS“ neu eingeführt. Neben der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wird künftig auch die Diagnose der „komplexen PTBS“ neu eingeführt. © Alexandre - stock.adobe.com (Generiert mit KI)

Neben der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wird künftig auch die Diagnose der „komplexen PTBS“ neu eingeführt. Woran erkennt man die beiden Störungen und welche Therapie benötigen die Betroffenen jeweils?

Auch wenn die ICD-10 noch den Abrechnungsstandard darstellt: In der ICD-11 ist das State-of-the-Art-Wissen versammelt, wie Prof. Dr. Dr. Andreas­ Maercker­ vom Psychologischen Institut der Universität Zürich betonte. Das gelte auch für psychische Erkrankungen, die im Zusammenhang mit belastenden oder traumatischen Ereignissen stehen. Neben der Anpassungsstörung und der anhaltenden Trauerstörung zählen dazu vor allem die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie die neu eingeführte komplexe PTBS.

Die „klassische“ PTBS ist durch die folgenden drei Aspekte definiert:

  • Traumakriterium: Erlebnis(se) mit Todes- oder schwerer Verletzungsdrohung,
  • Symptombild (mindestens seit etwa einem Monat) und
  • psychosoziale Funktionseinschränkungen.

Die Diagnose werde dabei entscheidend durch das Symptombild bestimmt und nicht durch die Art des Traumas, betonte Prof. Maercker. Drei Aspekte davon werden in der ICD-11 aufgelistet: Wiedererleben, Vermeidung und Bedrohungsgefühl.

Das Symptom des Wiedererlebens wurde weiter spezifiziert. Traurig an die traumatische Situation zurückzudenken, war noch nie ein sensitives Kriterium, betonte der Experte– dies sei mitunter Teil von Resilienz. In der ICD-11 gefordert werde daher ein Wiedererleben in Form von Flashbacks, Albträumen oder lebhaften, intrusiven Erinnerungen.
An die Stelle der Amnesie bzw.Teilamnesie tritt im neuen Diagnosesystem die (bewusste) Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, Aktivitäten oder Personen, die mit dem traumatischen Erlebnis zusammenhängen. Ein Blackout oder eine Dissoziation werden nicht verlangt.

Statt eines relativ unspezifischen Hyperarousals wird jetzt ein anhaltendes Bedrohungsgefühl als typisch genannt. Dieses äußerst sich z. B. in übermäßiger Wachsamkeit oder Schreckhaftigkeit.

Bei der komplexen PTBS tritt zum bekannten Symptombild noch eine Störung der Selbstorganisation hinzu. Es bestehen unter anderem Probleme mit der Affektregulation, ein negatives Selbstkonzept und Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Das Trauma, das zu dieser Störung führt, ist typischerweise lang andauernd oder wiederholter Natur und/oder extrem bedrohlich und schockierend, ohne dass eine Flucht möglich ist. Beispiele sind eine KZ-Haft, Folter oder sexueller Kindesmissbrauch. Auch für die komplexe PTBS gelte jedoch, dass die Art des Traumas für die Diagnose letztlich keine Rolle spielt, sondern das Symptombild mit der Störung der Selbstorganisation entscheidend ist, betonte der Referent.

Die komplexe PTBS kann Überschneidungen zur Borderline-Störung aufweisen. Verschiedene Aspekte helfen dabei, die beiden Diagnosen voneinander anzugrenzen (siehe Tabelle).

Borderline-Störung oder komplexe PTBS?
KriteriumBorderline-Persönlichkeitsstörungkomplexe PTBS
Trauma-Erlebnisnicht gefordertmuss vorliegen
Angst vor Verlassenheitist ein Merkmalkein Merkmal
Selbstwahrnehmungwechselnde persönliche Identitätanhaltend negatives Selbstbild
Selbstverletzendes Verhaltentritt häufig aufist möglich, aber weniger häufig
Beziehungsverhalteninstabile BeziehungenVermeidung von Beziehungen

Psychotherapie hat generell sehr große Effekte auf die Symptome einer Traumatisierung, berichtete Prof. Dr. Regina­ Steil­ vom Zentrum für Psychotherapie der Universität Frankfurt am Main. Sie ist die Behandlung der Wahl und einer Pharmakotherapie überlegen. Besonders effektiv sind nach einer Netzwerk-Metaanalyse die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TF-KVT), EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) sowie die nicht-traumafokussierte Verhaltenstherapie. Auch die narrative Expositionstherapie erreichte im Vergleich zu keiner Therapie eine hohe Effektstärke.

Aerober Booster

Kürzlich wurde beschrieben, dass sich der Effekt einer traumfokussierten KVT bei PTBS mit aerobem Bewegungstraining augmentieren lässt. In neun KVT-Sitzungen wurden jeweils zehnminütige aerobe Übungen oder in der Kontrollgruppe ein zehnminütiges Stretching integriert. Nach sechs Monaten war die PTBS-Schwere, gemessen mit der Skala CAPS-2 (Clinician-Administered PTSD Scale), in der Gruppe mit aeroben Übungen signifikant stärker gesunken als in der Stretching-Gruppe. Studien an gesunden Probanden und im Tiermodell legen nahe, dass körperliches Training Lernprozesse im Zusammenhang mit der Extinktion moduliert, erklärte Prof. Dr. Regina Steil, Universität Frankfurt am Main.

Langzeitdaten sind allerdings selten und weisen nur bei KVT und EMDR auf signifikante Langzeiteffekte hin. Entsprechend wurde ein Konzept der verlängerten Exposition entwickelt, um die Gewöhnung an Intrusionen und die damit verbundenen Emotionen zu verbessern. Diese Methode sei leicht erlernbar, etabliert und in Studien sehr wirksam, betonte Prof. Steil. Sie ist auch als Intensivbehandlung über zwei Wochen möglich und in dieser Form mit geringeren Abbruchraten assoziiert.

Evidenz zur Wirksamkeit dieser oder anderer Psychotherapien bei komplexer PTBS gibt es kaum. Die Leitlinie ist derzeit in Überarbeitung. In der Version von 2019 wurde für die Therapie der komplexen PTBS eine Kombination traumafokussierter Techniken empfohlen. Die Schwerpunkte sollten auf der Verarbeitung der Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse und/oder ihre Bedeutung sowie auf Techniken zur Emotionsregulation und zur Verbesserung von Beziehungen liegen.

Quelle: DGPPN* KOngress 2024

* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V