Ernährung und Krebs Dr. Nicole Erickson über die Vorzüge einer professionellen Ernährungsberatung in der Onkologie
Wie häufig müssen Sie in Ihrer täglichen Praxis Lebensmittelmythen bei Krebspatient:innen widerlegen?
Dr. Nicole Erickson: Das passiert eigentlich tagtäglich – sogar mehrmals. Und nicht nur die Patient:innen selbst kommen mit Fragen auf uns zu, sondern auch ihre Angehörigen. Ihre Fragen nur kurz und knapp zu beantworten, reicht in den meisten Fällen nicht aus. Man sollte sehr umfänglich und verständnisvoll darauf eingehen.
Welche klassischen Mythen halten sich besonders hartnäckig?
Dr. Erickson: Ich bin eigentlich überrascht, dass seit mehr als einem Jahrzehnt immer wieder das Thema „Zucker füttert Tumorzellen“ aufkommt. Expert:innen haben diese These jedoch längst widerlegt. Sowohl in Labor- als auch in Tierstudien wird immer wieder demonstriert, dass an dem Thema nichts dran ist. Es gibt zwar einige Humanstudien, die auf einen Effekt hinweisen, allerdings sind diese aus verschiedenen Gründen klinisch nicht aussagekräftig. Bis heute ist somit eine mehr als 30-jährige Datenlage kumuliert. Aber trotzdem gibt es bisher keine konkrete wissenschaftliche Grundlage, auf die wir eine klinische Aussage stützen könnten, die für diese Wirkung von Zucker spricht.
Die Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie und die Deutsche Krebsgesellschaft veröffentlichten 2022 eine gemeinsame Stellungnahme mit der Aussage: „Aufgrund der aktuellen Datenlage können kohlenhydratarme oder ketogene Diäten als ergänzende Therapie und allgemein für Menschen mit onkologischen Erkrankungen nicht empfohlen werden.“
Ein weiterer Mythos, der sich hartnäckig hält, ist, dass Fasten bei Krebserkrankungen hilfreich sein kann. Auch dafür liegt nicht ausreichend Evidenz vor. Es gibt immer wieder Fälle, in denen sich Betroffene an Ernährungsregeln entsprechender Diäten halten, die absolut gefährlich werden können. Eine mögliche Konsequenz ist Mangelernährung, die schlimmstenfalls zu einer Therapieunterbrechung führen kann. Und diese kann sich natürlich auch negativ auf das Überleben auswirken.
Die Gründe für eine ungeeignete Ernährung bzw. gar nicht zu essen, können divers sein. Wie gehen Sie auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Krebspatient:innen ein?
Dr. Erickson: Das stimmt. Und das hat natürlich auch nicht per se etwas mit Irrglauben zu tun. Patient:innen mit Geschmacksveränderung werden vermutlich instinktiv auf proteinreiche Lebensmittel verzichten, da sich in diesem Bereich die größten geschmacklichen Auswirkungen ergeben. Das ist ein Beispiel, bei dem sich aufgrund von Therapienebenwirkungen individuelle Ernährungsbedürfnisse ergeben.
Um gezielt auf diese Bedürfnisse eingehen zu können, ist für uns das Beratungsgespräch sehr wichtig. Darin erfragen wir Probleme, Prioritäten und persönliche Ziele. Genauso wichtig ist ein Blick auf die aktuellen medizinischen Probleme der jeweiligen Person. So können wir gemeinsam Methoden entwickeln, die in ihrer Lebenssituation gut umsetzbar sind.
Eine qualifizierte Ernährungsberatung ist nicht standardmäßig für alle Krebspatient:innen vorgesehen. Ist sie denn überhaupt für jede:n notwendig oder nur bei Verdacht auf eine Mangelernährung?
Dr. Erickson: Es gibt vielerlei Gründe, warum eine qualifizierte Ernährungsberatung nicht als Standardleistung von den Krankenkassen übernommen wird. Ich bin der Meinung, dass es hier Änderungsbedarf gibt, aber das ist ein langer Weg. In den USA hat beispielsweise jede Klinik ein festes Ernährungsteam, das sich – nicht nur auf onkologischen Stationen – um die Patient:innen kümmert.
Dass es hierzulande keine Regelleistung ist, heißt nicht, dass nicht alle Krebserkrankten profitieren würden. Mittlerweile liegt sogar ausreichend Evidenz vor, dass vor allem ältere Betroffene von einer individuellen gezielten Ernährungstherapie profitieren. Meiner Meinung nach sollte zumindest jede Person die notwendigen Informationen erhalten, um sich bei Bedarf an das Fachpersonal wenden zu können.
Wie können die behandelnden Ärzt:innen die Betroffenen am besten unterstützen, wenn sie nicht auf eine qualifizierte Ernährungsberatung im Team zurückgreifen können?
Dr. Erickson: Ich denke, das Wichtigste ist, sich immer genug Zeit zu nehmen, um die Fragen der Patient:innen umfassend zu beantworten. Sind die Grenzen der Ärzt:innen hinsichtlich Ernährungsfragen erreicht, so sollte man den Patient:innen Ressourcen an die Hand geben, damit sie sich auch privat qualifiziert weiter informieren können.
Hätten Sie einen Wunsch frei, was sollte sich in Ihrer Arbeit ändern?
Dr. Erickson: Ich würde mir wünschen, dass es in jeder Klinik ein interdisziplinäres Team gibt, das sich patient:innenzentriert um die Betroffenen kümmert. Und ich sage interdisziplinär, da ich glaube, dass mindestens ein Arzt bzw. eine Ärztin, ein:e Pflegende:r und eine Ernährungsfachkraft zusammenarbeiten sollten. Idealerweise würden ein:e Bewegungsexpert:in und ein:e Psycholog:in das Team komplettieren. Das wäre mein Traum.
Interview: Dr. Judith Besseling