Automatisierte Insulindosierung Quelloffenes Schulungswerkzeug kann kostenlos im Webbrowser bedient werden

diatec journal Autor: Prof. Dr.-Ing. Heiko Peuscher

Die Simulation der Funktionsweise von 
AID-Systemen bietet Behandlungsteams 
und Anwendenden vielseitige Optionen. Die Simulation der Funktionsweise von AID-Systemen bietet Behandlungsteams und Anwendenden vielseitige Optionen. © Miha Creative – stock.adobe.com

Die zunehmende Verbreitung automatisierter Insulin­abgabe-Systeme (AID) bedeutet einen disruptiven Wandel der Herausforde­rungen beim Diabetesmanagement. Der Open-Source-Simulator LoopInsighT1 soll das Potenzial moderner Technologie für Aufklärung, Schulung und Wissenschaft in der Breite verfügbar machen. 

Computersimulation ist aus zahllosen Branchen und technischen Anwendungsfeldern nicht mehr wegzudenken. Als sogenannte dritte Säule der Wissenschaft ermöglicht sie auch da zuverlässige Aussagen, wo theoretische Betrachtungen an der Komplexität der Realität scheitern, während Experimente aus praktischen, ökonomischen oder ethischen Gründen nicht infrage kommen. 

Auch zur Aufklärung und Schulung von Menschen mit Diabetes mellitus Typ 1 bzw. deren betreuendes medizinisches Personal kommt Simulation schon seit Jahrzehnten zum Einsatz. Als Meilenstein ist hier das Software-Projekt AIDA zu nennen, welches seit den 1990er-Jahren gezielt als massentaugliches Schulungswerkzeug entwickelt und kostenlos über eine Website zum Download angeboten wurde. 

Bei der Entwicklung neuer Geräte und Therapien zur Behandlung des Diabetes spielt Simulation ebenfalls längst eine wichtige Rolle. Bekanntestes Beispiel dürfte der T1DM-Simulator (T1DMS) sein, der an den Universitäten von Virginia (UVA) und Padova konzipiert wurde, um Algorithmen zur automatischen Insulindosierung (AID) zu testen: Seit 2008 akzeptiert die FDA im Zulassungsverfahren von AID-Systemen seine Berechnungen anstelle von experimentellen Ergebnissen aus Tierversuchen.

AID-Simulation: hilfreich für Be­handelnde und Betroffene

Es liegt daher nahe, Simulation auch zur Bewältigung der Herausforderungen einzusetzen, die sich aus der zunehmenden Verbreitung von AID-Systemen ergeben: Deren Nutzung und Konfiguration wirft völlig neue Fragen auf, die sich vom klassischen Diabetesmanagement stark unterscheiden und deutlich anderes Fachwissen erfordern. Interaktive simulationsbasierte Werkzeuge könnten einerseits Behandlungsteams ermöglichen, sich selbst mit verschiedenen Therapieformen vertraut zu machen oder gefahrlos die Auswirkungen von Konfigurationsfehlern, unangekündigten Mahlzeiten etc. zu erkunden. Andererseits könnte Simulation auch bei der Aufklärung oder dem Training von Betroffenen massiv zur Anschaulichkeit beitragen. 

Allerdings wurde die Weiterentwicklung von AIDA vor Jahren eingestellt, bevor die ersten AID-Systeme auf den Markt kamen. Und für die Nutzung des T1DMS sind kostspielige Lizenzen erforderlich (sowohl für das eigentliche Werkzeug als auch für die zugrunde liegende Numerik-Software Matlab/Simulink) sowie entsprechende Expertise bei der Programmierung, sodass auch der Einsatz dieses Tools nur einem kleinen Kreis von Spezialistinnen und Spezialisten aus Wissenschaft und Industrie vorbehalten bleibt.

LoopInsighT1 vereint Vorteile bestehender Lösungen

An der Technischen Hochschule Ulm (THU) wurde daher im Rahmen des Projekts LoopInsighT1 ein neuer Diabetes-Simulator geschaffen, der die Vorteile bestehender Lösungen in sich vereinen soll.

Dabei arbeitet er nach dem gleichen Prinzip wie die meisten Diabetes-Simulatoren: Um die Wirkung der Insulintherapie auf den Körper vorherzusagen, benötigt man ein mathematisches Modell der menschlichen Physiologie. Typischerweise handelt es sich dabei um ein System gewöhnlicher Differentialgleichungen; diese beschreiben die momentanen Veränderungen in den sogenannten Kompartimenten, die beispielsweise durch äußere Einflüsse wie Mahlzeiten ausgelöst wurden. Mit einem geeigneten numerischen Verfahren („Solver“) lassen sich die Gleichungen näherungsweise lösen, indem viele kurze Zeitschritte nacheinander berechnet werden. Im Zuge dessen wird auch der Algorithmus zur Insulindosierung regelmäßig mit dem simulierten CGM-Messwert gespeist und aktualisiert seine Anforderung an die ebenfalls simulierte Insulinpumpe. 

Aus Sicht des AID-Systems wird somit der reale Mensch durch einen „virtuellen Patienten“ ersetzt. Der neue Simulator nutzt hierfür das UVA/Padova-Modell, das auch T1DMS zugrunde liegt und somit vergleichsweise gut abgesichert ist. Alternativ ist unter anderem das in der wissenschaftlichen Literatur ebenfalls viel zitierte Modell von R. Hovorka implementiert und verfügbar.

Ulmer Simulationsprojekt: nur Webbrowser nötig

Durch die Verwendung offener Sprachen und moderner Webtechnologien (JavaScript, Vue.js) ist der Simulator auf den meisten handelsüblichen Endgeräten (Smartphone, Tablet, PC) in einem gewöhnlichen Browser lauffähig, ohne dass Software installiert werden muss. 

Über die Projektwebsite ist eine aktuelle Version des Simulators frei verfügbar. Zunächst können dort zahlreiche Einstellungen angepasst werden, z.B. die Parameter des virtuellen Patienten oder die Mahlzeiten samt jeweiliger Ankündigung. Anschließend startet man die Simulation durch einen Knopfdruck. Wahlweise können die vorherigen Verläufe für einen besseren Vergleich beibehalten werden. 

Das Projekt LoopInsighT1 im Überblick:

  • entwickelt an der Technischen Hochschule Ulm
  • benutzt dasselbe Modell, auf dem der erprobte T1DM-Simulator basiert
  • läuft browserbasiert, keine Software-Installation nötig
  • Insulindosierung durch AID-Algorithmus OpenAPS
  • auch CSII-Therapie mit konstanter Basalrate darstellbar
  • Einbindung von Algorithmen kommerzieller Systeme geplant
  • weitere Features in Entwicklung, z.B. Abbildung körperlicher Aktivität
  • modulare Struktur erlaubt individeulle Bedienoberflächen 

Die Insulindosierung erfolgt standardmäßig durch den AID-Algorithmus OpenAPS, der von der „Do-It-Yourself-Community“ ebenfalls als Open-Source-Projekt entwickelt wurde. Alternativ steht beispielsweise eine Pumpentherapie mit konstanter Basalrate zur Auswahl. Mittelfristig sollen auch Algorithmen kommerzieller Systeme eingebunden oder zumindest nachempfunden werden.

Der Quellcode wurde vollumfänglich offengelegt („Open Source“) und kann somit nicht nur unabhängig geprüft und in seiner Funktionsweise nachvollzogen, sondern auch beliebig erweitert und an spezielle Anforderungen angepasst werden. 

Auch die Wissenschaft profitiert dank Open Source 

Dies betont einerseits den nicht-kommerziellen Charakter des Projekts. Zum anderen bietet sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern so die Möglichkeit, simulationsbasierte („in silico“) AID-Studien einfach und kostenfrei durchzuführen und anschließend nicht nur – wie dies derzeit gängige Praxis ist – aggregierte Ergebnisse der Studie, sondern auch den Code zu veröffentlichen. Dies gewährleistet, dass die Ergebnisse mit minimalem Aufwand vollständig reproduziert werden können, z.B. bereits im Begutachtungsprozess einer Veröffentlichung. So kann das Projekt auch einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität und zur Bekämpfung der Replikationskrise leisten.

Zahlreiche neue Features sind geplant oder bereits in Umsetzung. Beispielsweise soll der Simulator in naher Zukunft auch den Einfluss körperlicher Aktivität berücksichtigen. Außerdem sollen die dynamischen Eigenschaften von Insulinpumpe und CGM-Sensor einkalkuliert und verfügbare Insuline unterschieden werden können.

Gamification-Ansatz erleichtert die Bedienung

Dank der modularen Softwarestruktur ist es zudem möglich, alternative Benutzerschnittstellen zu entwickeln. Während die derzeitige Bedienoberfläche sehr technisch gehalten ist, also viele Einstellmöglichkeiten und Ausgaben umfasst, könnten leicht zusätzliche Schnittstellen geschaffen und auf einen bestimmten Anwendungsfall zugeschnitten werden. Dabei könnten auch grafische Animationen und spielerische Elemente zum Einsatz kommen („Gamification“), die beispielsweise eine gute Einstellung des AID-Systems belohnen.

Das Team der Autorinnen und Autoren freut sich über Vorschläge zur Weiterentwicklung und/oder konkreten Nutzung sowie über Mitwirkende und interessierte Kooperationspartner.